06.05.2022

«In jedem Film kommt ein Tier vor»

Filmemacher Lasse Linder aus Widnau war für «Nachts sind alle Katzen grau» mit Filmpreisen überhäuft worden. Dann fiel der 28-Jährige ins Corona-Loch, jetzt legt er ein Musikvideo zum Song «Cornwall» von Mischgewebe vor.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 02.11.2022
«Ich drehe und produziere erst seit vier Jahren auf professio­nelle Weise eigene Filme», sagt Lasse Linder. Er war überhaupt nicht darauf vorbereitet, als er vor drei Jahren für «Nachts sind alle Katzen grau» einen Filmpreis nach dem andern bekam.Der 18-Minuten-Dokumentarfilm war seine Bachelor-Abschlussarbeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Fachrichtung Video. «Es war eine verrückte Zeit», sagt Lasse Linder. Sieben Monate der Freude, von der Premiere am Filmfestival Locarno über Hauptpreise in Toronto und Tampere bis zum Europäischen Filmpreis. «Den Berufsalltag hatte ich noch gar nicht kennengelernt, dann kam Corona», blickt er zurück. Es war eine Vollbremsung.Er brauchte Zeit, um die Preise einzuordnenLasse Linder hatte Mühe damit. Mit den renommierten Preisen in der Tasche setzte er sich selbst unter Druck, er hatte das Gefühl, «sofort etwas nachlegen zu müssen». Er brauchte Zeit, um sein Narrativ neu zu ordnen. Nebst dem Musikvideo «Cornwall» hat Linder an vielen anderen Projekten gearbeitet. Er lernt wieder, seine Filmprojekte unbefangen anzugehen: «Ich muss mit dem nächsten Film nicht wieder einen Filmpreis gewinnen.» Und in den Alltag lebt er sich gerade ein, jetzt wo die Pandemie (vorläufig) überwunden ist.Das Musikvideo «Cornwall» ist Lasse Linders neuestes Werk. Es wurde am letzten Freitag und Samstag an der Kurzfilmnacht im Kino Kinok in St. Gallen im Programmblock «Made in St. Gallen» gezeigt. «Das hat mich sehr gefreut, auch wenn das Musik­video eigentlich nicht zum Kurzfilm-Genre gehört», sagt Linder.In seinem prämierten Film «Nachts sind alle Katzen grau» ist der Protagonist Christian, der mit seinen Katzen Marmelade und Katjuscha in symbiotischer Beziehung lebt. Auch in «Cornwall» geht es um die Beziehung zwischen Mensch und Tier: Im Unterwassermuseum ziehen Fische einsam ihre Kreise, auf der anderen Seite der dicken Glasscheiben, im Maschinenraum des Aquariums, zieht der Reinigungsmitarbeiter Ivan einsam seine Bahnen.Lasse Linder wollte diese Geschichte unbedingt erzählen. Musikvideos sind für ihn Herzensprojekte, dafür gibt es keine Filmförderung in der Schweiz: «Einmal im Jahr mache ich ein Musikvideo», sagt Lasse Linder. Er würde gerne mehr machen, aber: «Ich bin gerade ziemlich pleite. Da muss ich etwas arbeiten, womit ich Geld verdiene.»Das Musikvideo «Cornwall» erzählt , wie schon der preisgekrönte Film mit «Katzenmann» Christian, von der Beziehung zwischen Mensch und Tier – ein Spannungsfeld, das Lasse Linder offensichtlich fasziniert. «Es ist unterdessen mein Running Gag, dass in jedem meiner Filme ein Tier vorkommt», sagt Lasse Linder. Bei einem aktuellen Projekt seien es Hunde und beim Musikvideo «Hei zu dir», das Lasse Linder für die St. Galler Band Stahlberger produziert hat, treten zwei Leguane auf. Dort spielt übrigens auch die Auer Boxlegende Walter Walser mit.«Cornwall» hörte Lasse Linder an einem Konzert der Band Mischgewebe. «Ich wusste sofort, zu diesem Song möchte ich ein Video machen.» Die Band, die aus der Bündnerin Melanie Danuser und dem St. Galler Bill Bühler besteht, war schnell überzeugt vom Vorhaben. Dennoch dauerte es von der Idee bis zum fertigen Film rund zweieinhalb Jahre. Eine stolze Zeitspanne für ein Projekt, das vom Filmemacher nebenbei verfolgt wird, nebst grösseren Filmproduktionen.«Fische passen zum Lied, deshalb besuchte ich das Aquatis (Aquarium / Vivarium) in Lausanne.» Lasse Linder macht das oft so: Wenn er eine Idee hat, dann geht er an die Orte und schaut sich um. «Ich war kurz vor Öffnungsende dort, die Putzequipen waren bereits unterwegs», sagt Linder.Die scheinbare Absurdität ihrer Arbeit und der Gegensatz zwischen ihrer Wahrnehmung und der Welt der Tiere faszinierten ihn sofort. Die stummen Fische und der laute Maschinenraum: «Ein starker Kontrast.»[caption_left: Beat Wittwer spielt den Reinigungsmitarbeiter Ivan in Lasse Linders Musikvideo «Cornwall».  Screenshot: pd]Den Schauspieler Beat Wittwer kannte Linder aus anderen Filmen: «Ich habe ihn wegen seiner Mimik gewählt.» Er stellt die Monotonie meisterhaft dar.Schwieriger war es, den Drehort zu bekommen. Aus Lausanne und von allen anderen Unterwassermuseen im Raum Deutschalnd, Österreich, Schweiz bekam Lasse Linder zuerst eine Absage. Als er hörte, dass der Besitzer des Aquatis gewechselt hatte, versuchte er es nochmals, diesmal mit Erfolg: «Wir konnten dort während der Nacht drehen und tagsüber im Pädagogikraum übernachten.» In seinen Filmen besticht Lasse Linder immer wieder durch Sinn für komische Situationen. «Cornwall» ist da keine Ausnahme. Besonders bemerkenswert ist die Szene mit dem Taucher im Aquarium, während Ivan mit seiner Putzmaschine an ihm vorbeiläuft. Auch der Filmemacher ist mit dem Ergebnis zufrieden: «Es ist ein sehr schönes Video geworden. Nachts im Museum zu drehen und zu leben war für das ganze Filmteam ein spezielles Erlebnis.»Auch in grösseren Dokumentarfilmen verfolgt Lasse Linder seine Ideen. Dort braucht er bis zur Fertigstellung sogar eher noch mehr Zeit. Zusammen mit der Konzeption des Films sei die Sicherstellung der Finanzierung der intensivste Teil der Arbeit. «Ich weiss inzwischen, wie ich ein Formular um Förderbeiträge ausfüllen muss»,sagt Lasse Linder. Er sieht den Vorteil darin: «Die Angaben in den Dossiers müssen sehr präzis sein, das zwingt mich, noch tiefer über den Film nachzudenken, was ihn letztlich besser macht.»Filmprojekt in der Ukraine wegen des Krieges gestopptEin von Lasse Linder geplanter Film über Liebestourismus (Eheschliessungen) hätte in der Ukraine spielen sollen. «Wir waren im letzten Jahr oft dort für Recherchen und um Kontakte zu knüpfen», sagt Lasse Linder. Nach dem Kriegsbeginn hat er das Projekt gestoppt. Das Wohlbefinden seiner Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine berei­tet ihm Sorgen: «Einige sind geflüchtet, einige noch im Land und mit ein paar Menschen kann ich seit Kriegsbeginn keinen Kontakt mehr herstellen.»Nebst dem gestoppten Filmprojekt hat Lasse Linder weitere Dokumentationen geplant, Details verrät er nicht. Er wohnt in Zürich, nebst seinen Filmprojekten arbeitet er zu etwa 40 Prozent als Cutter für Produktionsfirmen. Im Rheintal besuche er oft seine Familie, hier tankt er Kraft. Das «Moschtifäascht» in Widnau möchte er in diesem Jahr besuchen.Lasse Linder erinnert sich ans Tal, in dem er aufgewach­-sen ist – und das Rheintal erinnert sich erst recht an ihn. Nebst den vielen internationalen Preisen, die er für «Nachts sind alle Katzen grau» erhalten hat, bekam er auch eine Auszeichnung aus dem Rheintal: Die Kultur­stiftung zeichnete Lasse Linder mit dem «Grüana Törgga» für den besten Nachwuchskünstler aus.Hier geht's zum Musikvideo «Cornwall»

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