30.11.2020

Im Millionenfall unrechtmässig observiert?

Im grossen Strafprozess, bei dem seit heute Morgen zwei Geschwister wegen Wirtschafts- und Sozialversicherungsbetrugs in Millionenhöhe vor Gericht stehen, verfolgen ihre Verteidiger die gleiche Strategie: Sie behaupten, die Observationen seien widerrechtlich gewesen und dürften deshalb nicht verwertet werden.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Beim Mann geht es um 650000 Franken, die er während eines Jahrzehnts bezog. Ihm wird nun vorgeworfen, seinen schlechten psychischen und körperlichen Gesundheitszustand vorgetäuscht zu haben. Denn Observationen durch zwei verschiedene Detekteien, die von der Sozialversicherungsanstalt (SVA) beauftragt worden waren, konnten eine lange Reihe von Tätigkeiten nachweisen, die im Widerspruch zu seinem behaupteten schlechten Gesundheitszustand stehen sollen. Vor dem Kreisgericht Rheintal am Montagmorgen in Altstätten bliebt der Mann während fast zwei Stunden über den Tisch gebeugt, wobei er sich mit beiden Händen fast durchgehend die Ohren zuhielt.Auch die Bezüge seiner Schwester – fast weitere 300000 Franken – sollen unrechtmässig gewesen sein. Zu guter Letzt steht auch die Mutter vor Gericht, die gemäss Anklageschrift Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen von weiteren gut 100000 Franken ertrogen hat.Angeklagte soll Genugtuung erhaltenWeil die SVA – so die Verteidiger – keinen begründeten Anfangsverdacht gehabt haben soll, sei die Überwachung durch Detektive unzulässig gewesen. Somit fehlten die Beweise und sei die Anklage, wie sie nun vorliegt, gar nicht gültig. Sozusagen als Tüpfelchen auf dem i wird für die angeklagte Verwaltungsratspräsidentin einer Firma im Mittelrheinal eine Genugtuung von 20000 Franken beantragt. Als Entschädigung für «die besonders schwere Verletzung der persönlichen Verhältnisse». Die Familie habe eine Hausdurchsuchung vor aller Augen erdulden müssen; zudem seien über 30 Zeugen einvernommen worden, wodurch der Fall breit bekannt geworden sei.Mit Kanonen sei auf Spatzen geschossen worden, meinte der Verteidiger des Mannes, der neben seiner Schwester als Verwaltungsrat im Handelsregister zu finden ist. Die durchgeführten Observationen seien ein «krasser Verstoss gegen die Verhältnismässigkeit». Weder habe die SVA einen Anfangsverdacht gehabt, noch habe sie mildere Mittel ausprobiert, was nach Darstellung der Verteidiger ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Zum Beispiel hätte sich eine stationäre Begutachtung durchführen lassen, meinte der Anwalt des Mannes.SVA hatte «allen Grund, anzunehmen, dass etwas nicht stimmt»Der Staatsanwalt stellte die Strategie der Verteidigung als vorhersehbar dar. Natürlich habe sich die Staatsanwaltschaft die Frage nach der Verwertbarkeit des Observierungsmaterials sehr wohl gestellt – und klar bejaht. So habe etwa ein Arzt das Lenken eines LKW durch den Angeklagten ohne Einschränkung bejaht, bevor die Observationen in Auftrag gegeben wurden. Ausserdem sei es der SVA jederzeit erlaubt, ein Dossier zu überprüfen, wenn ohne Vorhandensein einer eindeutigen Diagnose Renten bezogen würden. «Die SVA hatte allen Grund, anzunehmen, dass hier etwas nicht stimmt», sagte der Staatsanwalt – auch aufgrund eines anonymen Hinweises, der auf ungerechtfertigten Rentenbezug schliessen liess. Davon abgesehen, sei das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufdeckung eines Sozialversicherungsbetrugs höher zu gewichten als in diesem Falle die privaten Interessen der Beschuldigten. Nebenbei: Mit den Akten zu diesem Fall ist «ein zweitüriger Aktenschrank gefüllt worden», meinte der Staatsanwalt.Im Laufe des Verfahrens haben die Angeklagten bald einmal mit Reden aufgehört und sich auf ihr Aussageverweigerungsrecht berufen. Nachdem heute Morgen die Verteidiger und der Staatsanwalt sprachen, dürften als nächstes wohl die Angeklagten selbst Gelegenheit bekommen, sich zu äussern.Der Prozess wird um 14 Uhr fortgesetzt.

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