07.04.2022

Ihre Kunst öffnete einen Fluchtweg

Das Talent, Matrjoschkas zu bemalen, führte die geflüchtete Ukrainerin Tatiana Doroscheva nach Balgach.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 02.11.2022
Hildegard BickelDie berühmten, kunstvollen Holzpuppen, auch bekannt als Babuschkas, sind beliebte Souvenirs und Sammelobjekte. In Galina Herzogs Stube in Balgach zieren sie ein ganzes Regal. Die Russin, die seit 20 Jahren in der Schweiz lebt, hat zahlreiche Exemplare in der Ukraine bezogen – bei Tatiana Doroscheva. Sie hat die Puppen, die aus bis zu 30 Teilen bestehen, aufwendig mit verschiedenen Trachten und Märchensujets gestaltet. Die 60-jährige Künstlerin lebt mit ihrem Mann und dem 16-jährigen Sohn Andrej in der Umgebung der Stadt Charkiv im Osten des Landes. Als der Krieg ihren Alltag erschütterte und Bomben fielen, während sie auf dem Weg war, ein Brot zu kaufen, entschied sie, nicht länger zu bleiben. Tatjana Doroscheva kontaktierte Galina Herzog und bat um Hilfe.Privat unterstützt und untergebracht Nach einer mehrtägigen Flucht durch Polen und Deutschland kam sie mit Andrej Mitte März im Rheintal an. Die Anmeldung im Empfangs- und Verfahrenszentrum Altstätten verlief reibungslos, eine Unterkunft bekam sie privat bei der deutschen Gastfamilie Klein. Mitte April wird Tatiana Doroscheva mit ihrem Sohn in Balgach eine Wohnung beziehen können. Galina Herzog und die Gastfamilie bleiben ihr behilflich bei Organisatorischem und Terminen auf den Ämtern. Untereinander wird russisch gesprochen. Zu Spannungen aufgrund ihrer Nationalitäten komme es nicht. Was zähle, sei die Unterstützung.Im Rheintal sei es «beautiful», schön und ruhig, sagt Tatjana Doroscheva. Sie hält Andrejs Hände, der nickt und lächelt. Er möchte Deutsch lernen. Der autistisch beeinträchtigte Junge besuchte in seiner Heimat eine Sonderschule. Es sind Abklärungen im Gang, in welcher Form er hier betreut und beschult werden kann. Tatiana Doroscheva hat wieder begonnen, sich künstlerisch zu betätigen. Galina Herzog kaufte ihr Pinsel und Farben. Statt Matrjoschka-Rohlingen bemalt die Ukrainerin nun Steine und Eier für Osterdekorationen. Sie besitze auch das Talent, Portraits zu malen, sagt Galina Herzog. Da Geflüchtete aus der Ukraine den Schutzstatus S erhalten, ist es Tatiana Doroscheva möglich, einer Arbeit nachzugehen. Sie zeigt auf ihrem Handy Videos und Bilder ihres Matrjoschka-Sortiments. Die Kunst und Tradition der Holzpuppen ist sowohl in Russland als auch der Ukraine verbreitet. Tatiana Doroscheva, die früher an einer Schule Musik unterrichtete, lernte das Handwerk, nachdem Andrej zur Welt kam und sie zu Hause Arbeit und Kinderbetreuung vereinbaren wollte. Nun hofft sie, mit Malaufträgen einen Teil ihres Lebensunterhaltes bestreiten zu können und Struktur in ihren Alltag zu bringen. Die universelle Sprache der Kunst hilft zudem, Kommunikationshürden zu meistern. Die Ukrainerin spricht etwas Englisch und bemüht sich lächelnd um ein paar deutsche Wörter. Wie andere Geflüchtete auch, geht Tatiana Doroscheva von einem temporären Aufenthalt in der Schweiz aus. Sie denkt oft an ihr Zuhause und ihren 58-jährigen Mann, der bleiben musste, weil er zu den 18- bis 60-Jährigen gehört, die ihr Land verteidigen sollen. Sie musste sich auch von ihren erwachsenen Töchtern trennen. Valentina flüchtete mit ihrer zehnjährigen Tochter nach Portugal, Irina blieb mit ihrem vierjährigen Sohn in der Ukraine. Alle hoffen auf ein Wiedersehen der auseinandergerissenen Familie. HinweisKontakt für Malaufträge:reimchen.lena@gmail.com

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