23.04.2020

«Ich will weiterhin protestieren»

Lehrer Özcan Tümen musste seinen Beruf aufgeben, weil er die türkische Regierung kritisierte. Aus dem Exil setzt er sein Engagement fort.

Von Interview: Simone Kaiser
aktualisiert am 03.11.2022
In der Schweiz sind Özcan Tümens Chancen auf eine Stelle als Lehrer gering. Deshalb will er seine Zeit für seine Kinder und die Zukunft des kurdischen Volkes einsetzen.Was für ein Leben führten Sie vor Ihrer Flucht?Özcan Tümen: Mit meiner Frau und den zwei älteren Söhnen lebte ich in der Türkei. Dort unterrichtete ich an der Primarschule sieben- bis zwölfjährige Schüler. Die letzten sechs Jahre vor unserer Flucht war ich als Direktor in der «Union» aktiv. Diese Organisation macht sich für die Lehrerrechte, die Wirtschaft und die Demokratie stark. Wir sind auch gegen das politische System, das wir als antidemokratisch betrachten. Unsere Anstrengungen wurden jedoch von der Regierung nicht gern gesehen. Der türkische Präsident Erdogan hat veranlasst, systemkritische Bürger zu isolieren. Unsere Jobs wurden gekündigt und wir konnten unsere Meinung nicht mehr frei äussern. Als Familienvater trage ich eine grosse Verantwortung. Daher haben wir uns zur Flucht entschieden.Wie gestaltete sich Ihre Flucht?Die Flucht traten wir 2016 an. Da ich bereits im Besitz eines grünen Passes war, konnte ich das Land mit dem Flugzeug verlassen (Anmerkung der Redaktion: In der Türkei können Beamte einen grünen Pass erhalten, der die Visa-freie Einreise in den Schengenraum ermöglicht. Der herkömmliche türkische Pass ist rot). Das Ziel unserer Flucht war klar. Wir wollten in die Schweiz, da wir Verwandte hier haben. Diese vertrauten Menschen sind in einem fremden Land wie ein Anker. Wir landeten in Zürich und haben um Asyl gebeten. Zuerst lebten wir im Asylzentrum. Dort haben wir die Aufenthaltsbewilligung B erhalten, und dann konnten wir eine Wohnung in Au beziehen.Wie verbringen Sie Ihr derzeitiges Leben in der Schweiz?In Au fühlen wir uns wohl, wir unternehmen in der Freizeit gerne Spaziergänge. Unsere beiden Söhne gehen in die Schule und in den Kindergarten. Sie lernen viel, spielen im Verein Fussball und lernen Gitarre spielen. Vor zwei Jahren ist unser dritter Junge zur Welt gekommen. Meine Frau kümmert sich um unser Zuhause und betreut die Kinder. Ich mache ein Praktikum im Bereich Recycling. Firmenintern besuche ich einen Deutschkurs. Eine Stelle als Lehrperson werde ich wohl nicht bekommen, da mein Deutsch nicht die Anforderungen erfüllt. Das muss ich akzeptieren.Was motiviert Sie, beim Projekt #refujournalists mitzumachen?Mir ist es einerseits wichtig, dass ich mich mitteilen kann. Andererseits sind die Redaktionssitzungen für mich eine Möglichkeit, unter Leute zu kommen und andere Geflüchtete kennenzulernen. In meinem ersten Artikel habe ich beschrieben, wie sich das Leben als geflüchtete Person anfühlt. Als nächstes möchte ich über die politische Lage und die Diktatur in der Türkei berichten. Ich möchte erzählen, mit welchen Problemen die Kurden in der Türkei zu kämpfen haben. Auch wenn ich nicht mehr in meiner Heimat lebe, will ich mich für die Kurden stark machen und weiter protestieren.Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?Mein erstes Ziel ist es, besser Deutsch zu lernen. Ich möchte das Leben und die Kultur hier im Rheintal kennenlernen. Weiter ist es mir ein Anliegen, eine feste Arbeit zu finden. Sehr weit in die Zukunft plane ich nicht, denn erst muss unser momentanes Leben ein Gleichgewicht finden. In ein paar Jahren zurück in die Heimat zu gehen, ergibt für meine Familie keinen Sinn, auch wenn sich die Lage in der Türkei beruhigen würde. Meine Kinder werden hier in der Schweiz zur Schule gehen. Gingen wir in zehn oder 15 Jahren zurück, hätten die Kinder eine Ausbildung, die in der Türkei nicht anerkannt wäre. Mir ist es wichtig, dass meine Söhne hier Fuss fassen und eine gute Ausbildung machen können. Wenn unsere Kinder glücklich und erfolgreich sein können, dann geht es meiner Frau und mir auch gut.

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