08.08.2022

«Ich war zur falschen Zeit Bobfahrer»

Bob-Anschieber Marco Tanner aus Lüchingen beendet seine Spitzensportkarriere. Er wurde zweimal Schweizer Meister im Zweierbob. Das grosse Ziel Olympia-Teilnahme verfehlte er aber knapp.  «Ich kann auf eine schöne Karriere zurückblicken», sagt der frühere Dreispringer.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 02.11.2022
Der 27-jährige Marco Tanner hat nach dem Saisonende lange überlegt, ob seine Karriere weitergehen soll. Sein Pilot Michael Kuonen trat zurück, aber Tanner hätte ins Team des Engadiners Cédric Follador wechseln können, vielleicht sogar ins Weltcup-Team von Simon Friedli. Die Heim-WM 2023 in St. Moritz sprach ebenfalls für eine Fortsetzung der Karriere.«Allerdings war nicht sicher, dass ich dort starten kann», sagt Tanner. Er hat eine Liste mit Pro- und Kontra-Argumenten gemacht – und schliesslich entschieden, die Bob-Karriere nach 568 Fahrten in sechs Jahren zu beenden. Dass er gleich eine Weiterbildung zum Machinenbautechniker beginnen konnte, hat seinen Entscheid vereinfacht. Dennoch sagt Tanner: «Ich habe mich in der ersten Zeit noch täglich gefragt, ob ich nicht doch hätte weitermachen sollen.»«Es hat Spass gemacht, war aber gar nicht rentabel»Mit 27 Jahren kommt er erst ins optimale Alter, um die Leistungsfähigkeit abzurufen. Und es ist nicht so, dass Marco Tanner die Freude am Bobsport vergangen wäre. Er denkt gerne an Erlebnisse mit Teamkollegen an Wettkämpfen zurück, den Austausch mit anderen Spitzensportlern an der Sportschule in Teufen schätzte er besonders.Aber da war auch der Wunsch, sich beruflich weiterzubilden und mit seiner Freundin Nadine Schönenberger, die selbst mit dem Team des STV Marbach Schweizer Meisterin in der Grossfeld-Gymnastik geworden war, zusammenzuziehen. Das war bisher aus finanziellen Gründen nicht möglich.«Es ist bedauerlich, dass in der Schweiz die Unterstützung für Bobsportler so schlecht ist», sagt Tanner, «wenn ich das Bobfahren als Beruf betrachten könnte, hätte ich bestimmt noch zwei, drei Jahre anhängen können.» In vielen anderen Ländern können sich die Athleten aufs Bobfahren konzentrieren, sie müssen nicht am Abend nach  der Arbeit trainieren. «In der Schweiz geht es vielen so wie mir: Man bleibt so lange dabei, wie man es sich irgendwie leisten kann und die Freude so gross ist, dass man ein Stück weit über die schlechten Voraussetzungen hinwegsehen kann», sagt Tanner.Dem Verband Swiss Sliding fehlt’s an Geld, die Sponsoren sind in sportlich erfolglosen Zeiten zurückhaltend. Dabei ist Bob nach Ski alpin die zweiterfolgreichste Sportart der Schweiz an Olympischen Winterspielen. Aber nach Beat Heftis Olympiasieg 2014 in Sotschi blieben die Erfolge aus – es rächte sich, dass der Verband in den fetten Jahren die Nachwuchsförderung vernachlässigt hatte. Bis vor ein paar Jahren hatte der Bobverband seine Anschieber fast ausschliesslich von der Leichtathletik abgeworben. Tanner selbst ist ein solches Beispiel: Vor der Bob-Karriere war er ein national erfolgreicher Leichtathlet. Der Weg von schnellkraftbasierten Disziplinen der Leichtathletik ist naheliegend und bleibt weiter offen. Aber inzwischen hat Swiss Sliding seine Versäumnisse erkannt, auch die Pilotenausbildung wird inzwischen bezahlt.In den nächsten vier, vielleicht auch acht Jahren wer­de sich die aktuell betriebene Nachwuchsförderung positiv auswirken. «Aber meine Generation kam genau in dieses Loch hinein», sagt Marco Tanner, «ich war vermutlich im falschen Moment Bobfahrer.»[caption_left: Der letzte Erfolg: Am 31. Dezember 2021 wurden Michael Kuonen (l.) und Marco Tanner Schweizer Meister im Zweierbob.  Bild: Archiv/ys]Er möchte sein Wissen als Trainer weitergebenNeu bietet der Verein auch eine Trainerausbildung an, vor drei Monaten war Marco Tanner beim Grundausbildungskurs dabei, es war der erste Lehrgang überhaupt. «Das gab’s bisher nicht, dadurch gingen auch Trainer verloren», sagt Tanner. Er möchte sein Wissen gerne als Trainer weitergeben. «Ich habe jetzt mal die Grundlagen als Anschiebe- und Athletik-Trai­ner im Bob erlangt. Auch als Leichtathletiktrainer, wo ich die Grundlagen schon seit ein paar Jahren habe, werde ich mich als Trainer weiterbilden», sagt der Lüchinger.Marco Tanner arbeitet bei der SFS, wo er bereits seine Lehre absolviert hatte. Von Oktober bis Februar konzentrierte er sich aufs Bobfahren, im Sommer arbeitete er mit einem Pensum zwischen 60 und 80 %. Ich sagte immer: «Ich bin Halbprofi: Ich trainiere wie ein Profi, aber verdiene leider fast nichts.» Dadurch hat er jetzt immerhin den Vorteil, dass der Übergang ins Berufsleben fliessend vonstatten geht.Marco Tanners Ziel als Bobfahrer war die Olympia-Teilnahme. In seinem zweiten Bobjahr, 2018, verpasste er die Quali für Pyeongchang, um 0,01 Sekunden. «Wenn ich zwei Jahre früher angefangen hätte, wäre ich damals weiter gewesen – und hätte die Quali wohl geschafft.» Vier Jahre später war das Niveau der Anschieber, die um Startplätze konkurrierten, deutlich höher. Und vor allem war Mar­-co Tanner beim Selektionsanschieben faktisch chancenlos, weil er nach zwei Stürzen im Eiskanal körperlich lädiert war.Die beste Saison im Eiskanal hatte Marco Tanner mit dem Team Kuonens 2020/21. Als grössten Erfolg bezeichnet er den ersten Schweizer Meister­titel im Zweierbob vor Vogt und Simon Friedli, die kurz zuvor Vierter und Fünfter an der WM wurden. «Emotional das Beste war jedoch der erste Europacupsieg in Lillehammer, weil wir dort als Letzte zum zweiten Lauf starteten und deshalb nach der Zieleinfahrt sofort sahen, dass wir gewonnen haben.»In der vorletzten Saison gewann Tanner mit dem Team Kuonen auch die Europacup-Gesamtwertung. Dieser hätte zusammen mit dem Meistertitel der Durchbruch fürs Team sein können, stattdessen war er die Ouvertüre zum Tiefpunkt in Marco Tanners Bob-Karriere: Trotz der Goldmedaille bekam das Team keine Chance, sich für den Weltcup zu empfehlen – was das Olympia-Out fürs Team bedeutete.Aus diesem Grund hat Kuonen seine Karriere beendet. Wäre der Walliser weitergefahren, hätte auch Tanner – mit dem Ziel Heim-WM 2023 vor Augen – noch mindestens eine Saison angehängt.[caption_left: Marco Tanner mit 7, 8 Jahren am Jugitag: «Dieser Bub hätte sofort genommen, was er in seiner Karriere schliesslich erreicht hat», schrieb sein Trainer Yves Zellweger nach dem Rücktritt.  Bild: pd]Auf sein Rücktrittsschreiben vom 29. Juni erhielt Marco Tanner viele Reaktionen, am meisten freute ihn das Whatsapp seines Trainers, sportlichen Vorbilds und früherem Trainings­kollegen Yves Zellweger. Der frühere Weitspringer, inzwischen Leiter der Geschäftsstelle der Sportschule Appenzellerland, schrieb: «Er schickte ein Bild von mir mit sieben oder acht Jahren und schrieb dazu: ‹Wenn dieser Bub damals gewusst hätte, was er im Sport alles erreichen wird, hätte er das sofort angenommen.›»Von letzten Rängen am Jugitag zum Schweizer Meister«An meinem ersten Jugitag bin ich nahezu Letzter geworden», erinnert sich Marco Tanner an diese Zeit zurück. Das Talent wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Michele Bellino, sein Vereinstrainer beim KTV Altstätten, sagte jedoch stets zu ihm: «Dein Talent besteht da­-rin, dass du immer fleissig bist und nie aufgibst.» So kämpfte sich Tanner nach oben, er wurde Schweizer Meister im Team-Weitsprung und holte auch die nationale Goldmedaille im Dreisprung, sein grösster Erfolg als Leichtathlet.«Ich habe nie eine Trainingseinheit ausgelassen, weil ich müde war oder keine Lust hatte», sagt Tanner, «vielleicht hätte ich manchmal lockerer mit mir sein müssen – andererseits hätte ich es ohne absolute Disziplin wohl nie so weit gebracht.»«Ich trainierte immer mehr als alle anderen», sagt Tanner. In der Leichtathletik sei es ihm egal gewesen, wenn andere zuwenig investierten: «Im Gegenteil; dann stiegen meine Chancen. Im Bobsport war ich we­niger nachsichtig: Dort waren wir ein Team mit gemeinsamen Zielen.»Es war indes nicht die Bequemlichkeit eines Kollegen, die Marco Tanners grossen Traum zerstörte, das war der schwere Sturz in Altenberg im November 2021 kurz vor dem Selektionsanschieben. Wieder einigermassen erholt, wurden Kuonen / Tanner an Silvester nochmals Schweizer Meister. Danach ging’s weiter zum Europacup nach Igls. Dort erkrankten alle Teammitglieder ausser Tanner an Corona: «Ich dachte damals, es sei das Saisonende.» Es war aber das Karrierenende.Ein Abschlussrennen blieb Marco Tanner zwar verwehrt, ein Abschlussfest konnte er dennoch geniessen: Im April wurde er von der IG St. Galler Sport­verbände zum Elite-Amateur des Jahres gekürt. «Dieser Anlass, zu dem auch meine Familie und Freunde eingeladen waren, empfand ich wie eine Belohnung für meine ganze Karriere. Einen schöneren Abschluss hätte ich mir nicht wünschen können», sagt Marco Tanner.[caption_left: Marco Tannner an der Ehrung der IG St. Galler Sportverbände: «Einen schöneren Abschluss meiner Karriere hätte ich mir nicht wünschen können.»  Bild: pd]Rücktrittschreiben von Marco Tanner:Danke für die schöne und unvergessliche ZeitLüchingen, 29. Juni 2022Nach 568 Bobfahrten als Spitzensportler habe ich mich entschieden, vom Spitzensport zurückzutreten. Dies heisst jedoch nicht, dass ich keine Bobfahrten mehr absolvieren oder nicht an gewissen Wettkämpfen starten werde. Allerdings werde ich nicht mehr das Ziel von Olympia oder der WM verfolgen und somit auch nicht mehr wie ein Spitzensportler sechs Mal pro Woche trainieren.In den vergangenen sechs Jahren konnte ich Spitzensport auf höchstem Niveau betreiben und einige Erfolge feiern. So wurde ich zweimal Schweizer Meister im 2er-Bob, gewann fünf weitere Medaillen an Schweizer Meisterschaften sowie mit dem Bobteam Kuonen die Gesamteuropacupwertung im 2er-Bob und in der Kombination. (2er- und 4er-Bob).Ein Europacupsieg, sechs Podestplätze im Europacup und ein Top-8-Platz im Weltcup waren die schönsten Momente meiner Karriere. Zudem wurde ich im April zum Elite-Amateur Sportler des Jahres 2021 des Kanton St. Gallens ernannt, was meine Karriere super abgerundet hat.Auch weniger schöne Momente gehörten zu meiner Bobkarriere dazu, wie der Sturz in Altenberg letzten November, der unsere Chancen auf eine Olympiaqualifikation zerstörten oder die eine Hundertstelssekunde, die mir 2018 für die Qualifikation an die Olympischen Spiele in Pyeongchang fehlten.Ich habe im Bobsport vieles erreicht, doch mein grosses Ziel, die Teilnahme an den Olympischen Spielen, für das ich so viel geopfert und unzählige Stunden investiert habe, wird leider für immer einen Traum bleiben. Nochmals vier weitere Jahre investieren und ans Limit gehen, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, weil der Aufwand immer grösser wurde und die Unterstützung von einigen Seiten fehlte.Ich möchte mich aber herzlich bei denen bedanken, die mich immer unterstützt haben: meine Sponsoren, meine Gönner, Fanclubmitglieder, Teamkollegen, der Bobclub St.Moritz, der KTV Altstätten, mein Arbeitgeber, meine privaten Trainer, die verschiedenen Swiss-Sliding-Trainer, die Sportschule Appenzellerland in Teufen, das Medical Team und natürlich meine Familie. Ein sehr grosser Dank geht auch an die Spitzensportförderung der Armee. Sie haben mich immer unterstützt und mir mit WK-Tagen viele Trainingslager und Absenzen für das Bobfahren ermöglicht.Ich habe mir immer gewünscht, 2023 nach der Heim-WM zurückzutreten. Das wäre mein Traumszenario für den Rücktritt gewesen. Doch im Sport kommt nicht immer alles, wie geplant, und trotzdem ist der jetzige Zeitpunkt der richtige. Aufwand und Ertrag stimmen schon lange nicht mehr überein, aber die Freude war so gross, ein Spitzensportlerleben führen zu dürfen, dass ich über das hinwegsehen konnte. Tägliches Training, fünf bis sechs Wochen Trainingslager im Sommer, den ganzen Winter unterwegs von Rennen zu Rennen – all das hat einfach Spass gemacht.Doch die letzten Monate hat mir diese Freude immer mehr gefehlt. Ich ging nicht mehr so gerne ins Training und auch die wochenlangen Reisen verloren irgendwann den Reiz, wenn der Erfolg auf höchster Stufe nicht mehr da war, und mit der vorhandenen Unterstützung auch nicht mehr gekommen wäre. Zudem sind mein Pilot und meine Teamkollegen Ende Saison zurückgetreten. Dies hatte natürlich auch einen Einfluss auf meine Freude am Training und den Entscheid zum Rücktritt.Ich habe bereits mit der Ausbildung zum Trainer begonnen und möchte sowohl im Bobsport als auch in der Leichtathletik mein Wissen und meine Erfahrung weitergeben. Denn ohne kompetente Trainerbetreuung sind grosse Erfolge nicht möglich. Ich durfte während meiner Karriere unter sehr vielen Trainern trainieren und konnte viel von ihnen lernen, und auch deshalb meine Erfolge feiern. Zudem habe ich auch die Ausbildung als Maschinenbau-Techniker begonnen. Wie ihr seht, wird es mir also auch in Zukunft nicht langweilig und die vergangenen sechs Jahre als Spitzensportler waren eine wunderbare Lebensschule für alles, was noch kommt.Es war eine unvergessliche Zeit! Jetzt freue ich mich aber auf neue Herausforderungen. Danke für eure Unterstützung!Bis bald, Marco TannerHier geht's zur Website von Marco Tanner

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