Noch vor einem Monat hatte der Rheinecker nicht mal an die Bahn-EM in Plovdiv gedacht. Dann wurde Simon Vitzthum Schweizer Meister im Scratch sowie Zweiter im Punktefahren – und erhielt eine Einladung des Nationalteams ins Trainingslager. «Als mir Claudio Imhof sagte: ‹Jetzt kommst du mit an die EM›, habe ich nur gelacht.»Der 30-jährige Claudio Imhof ist der Erfinder von Simon Vitzthums Bahnkarriere. Der Thurgauer aus Scherzingen hat seinen Trainingspartner aus Rheineck vor bald drei Jahren aufs ovale Parkett geführt. Der mehrfache WM- und EM-Medaillengewinner auf der Bahn ist Vitzthums Mentor geblieben. Sie trainieren regelmässig gemeinsam auf der Strasse, dann treffen sie sich in Arbon. «Claudio hat mich beim Einstieg auf der Bahn unterstützt, auch indem er sich gegenüber anderen für mich einsetzte», sagt Vitzthum, «er verhält sich nicht im geringsten wie ein Konkurrent.»Dass Vitzthum seine erste internationale Medaille mit seinem hilfsbereiten Freund gewinnen durfte, macht sie für ihn noch wertvoller.Medaillengewinn mit Bahn-Mentor ImhofDie Glücksgefühle nach dem Medaillengewinn stehen im Kontrast zu Vitzthums Gemütszustand vor dem Rennen: «Ich war nervös wie noch nie vor einem Rennen. Am liebsten hätte ich den Helm abgezogen und wäre nach Hause gegangen.» Er hatte Angst, das Resultat der Mannschaft zu vermiesen. «4000 Meter wie im Rennen sind wir im Training gar nie gefahren», sagt Vitzthum. Und seine Ablösung hätte nie zweimal nacheinander so geklappt, wie er sich das vorgestellt habe.Im Vierer-Mannschaftsfahren ist es von grosser Bedeutung, dass die Fahrer nahe beieinander bleiben. Der Führende muss sich nach getaner Tempoarbeit nach oben zurückfallen lassen und rechtzeitig mit Schwung wieder runterstechen, um sofort mit 60 km/h am Hinterrad des Vordermanns zu kleben.«In den drei Rennen haben die je drei Ablösungen, die ich fahren musste, perfekt geklappt», freut sich Vitzthum darüber, diese Herausforderung gemeistert zu haben. Nebst ihm und den Routiniers Imhof sowie Lukas Rüegg gehörte mit Dominik Bieler ein weiterer EM-Debütant zum Schweizer Bronzeteam.Der Schweizer Bahnvierer ist für die Olympischen Spiele in Tokio qualifiziert. In Plovdiv trat die Schweiz nicht in Bestbesetzung an, doch Simon Vitzthum schwang sich zum Kandidaten fürs Olympia-Ticket auf. «Das ist im Hinterkopf», sagt er, «aber es sind acht Fahrer, die für einen Startplatz in Frage kommen.» Er wolle sich nicht darauf versteifen und auch andere Ziele im Auge behalten.Die Situation mutet unwahr an, weil Vitzthum vor der EM gerade mal zwei Vierer-Mannschaftsfahren bestritten hatte. «In einem dieser Rennen wurde ich zwar Schweizer Vize-Meister», lacht er, «aber das war mit einem spontan zusammengewürfelten Team.»Ungewohnter, aber für ihn stimmiger Disziplinen-MixZurzeit arbeitet der Velomechaniker im Homeoffice: In der elterlichen Garage in Rheineck bearbeitet der Polizistensohn die Velos, die er am Morgen bei seinem Noch-Arbeitgeber Bischibikes in Rorschach holt.Ab nächstem Jahr lebt Vitzthum als Vollprofi, davon verspricht er sich mehr Zeit für die Regeneration. Der Mann, der auf dem Velo alles kann – Vitzthum gewann schon Medaillen auf der Bahn, der Strasse, im Radquer und im Cross Country – ist als Mountainbiker beim Team jb-Brunex angestellt. Mit Freiheiten für seine Bahn-Ambitionen, sofern das terminlich möglich ist. Dass Mountainbiker eine zweite Disziplin bestreiten, ist nicht aussergewöhnlich, aber meistens ist es Radquer. Vitzthum dagegen hat sich fürs Bahnfahren entschieden. «Diese Disziplin ist ungewohnt für die Mountainbiker, kann aber genauso gut daneben funktionieren.» Bahnfahren sei gesundheitlich schonender als Radquer, weil Kälte und Regen wegfallen: «Und technisch kann man in jeder Disziplin etwas lernen.»Startverbot trotz eines negativen Coronatests an der StrassenmeisterschaftVor der Abreise zur Bahn-EM wollte Simon Vitzthum die Schweizer Meisterschaften auf der Strasse bestreiten. Der dafür benötigte Covid-19-Test fiel zwar negativ aus, aber weil ein anderer aus seiner Gruppe ein positives Ergebnis vorwies, hätte er nochmals zu einem Test antreten müssen. Dafür reichte die Zeit aber nicht, Vitzthum durfte in Märwil TG nicht starten. Insgesamt liess er sich 13-mal auf Corona testen. Diese Umstände hält er für alternativlos und stören ihn weniger als wenn sich Kollegen nicht an die Schutzmassnahmen halten.