16.11.2019

«Ich kenne die Abläufe und Spiele»

Die 35-jährige Laura Bucher möchte für die SP in die St.Galler Regierung. Was ihre Familiengeschichte damit zu tun hat.

Von Interview: Odilia Hiller und Regula Weik
aktualisiert am 03.11.2022
Was reizt Sie am Regierungsamt?Laura Bucher: Es ist eine spannende und verantwortungsvolle Aufgabe. Menschen sollen auf Chancen, Solidarität und Gerechtigkeit vertrauen können. Dass mir diese Werte so wichtig sind, hat mit meiner Familiengeschichte zu tun. Meine Grosseltern kamen aus Italien in die Schweiz und mussten sich die Chancen hart erarbeiten. Sie erfuhren auch Diskriminierung. Meine Kandidatur soll daran erinnern, dass die Türen allen offenstehen sollten.Wie steht es um Ihr italienisches Temperament?Ich bin temperamentvoll im Sinne von kraftvoll und energiegeladen.Sind Sie froh, dass die Schweizer Politik andere Wege geht als die italienische?Ich bin vor allem froh um die Stabilität. Das ist in Italien definitiv nicht der Fall. Unsere Politik ist mehr sach- und weniger personenbezogen. Vetternwirtschaft und persönliche Begünstigungen spielen bei uns eine viel kleinere Rolle.Gibt es im Kantonsparlament auch Vetternwirtschaft?Natürlich sind gewisse Gruppierungen sehr gut vernetzt. Ich sehe das besonders bei Männern, die noch immer gerne Männer nachziehen.Sie wären die erste St.Galler Regierungsrätin mit Kindern im Vorschulalter. Wie würden Sie sich als Mutter organisieren?Ich wünschte mir, man müsste darüber nicht reden. Mein Mann und ich führen eine sehr gleichberechtigte Partnerschaft und teilen uns Familienarbeit und Kinderbetreuung. Dementsprechend werden wir uns organisieren.Bei Männern steckt in der Regel die Frau zurück. Wie ist es bei Ihnen?Mein Mann würde sein Pensum reduzieren.Was halten Sie von Jobsharing im Regierungsamt?Die Zeit ist noch nicht reif, aber man muss sicher in diese Richtung denken. Die Regierung soll ein Abbild der Gesellschaft sein. Die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich und ungenügend repräsentiert. Besonders die Mütter.Sie könnten die einzige Frau in der Regierung werden.Ich bin es gewohnt, die einzige Frau in einem Gremium zu sein. Es ist besser für jedes Team, wenn es mehr sind. Das gilt auch für die Regierung.Tut der Kanton genug für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?Alles unter einen Hut zu bringen, ist für viele Frauen und Männer ein Kraftakt. In gewissen Regionen gibt es noch immer zu wenige Kinderbetreuungsplätze. Und sie sind zu teuer. Auch die Rollenbilder müssen sich verändern.Wer steht hier in der Pflicht?Es liegt an uns allen, wenn es um die Rollenbilder geht. Die Gemeinden müssen für Kitas und schulergänzende Betreuung sorgen. Das kostet, aber es ist gut investiertes Geld. Letztlich ist auch der Kanton in der Pflicht: Als Arbeitgeber kann er in der Verwaltung entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, indem er etwa Teilzeitstellen schafft. Und er kann die Gemeinden in die Pflicht nehmen, was den Ausbau der Angebote betrifft.Der Staat muss mehr Geld in die Hand nehmen?Ja. Standortattraktivität definiert sich nicht nur über den Steuerfuss. Die Rahmenbedingungen für Familien sind ebenso wichtig. Zudem braucht der Markt die weiblichen Fachkräfte.Wo soll der Kanton sonst noch investieren?In den letzten Jahren senkte man die Steuern, kaum gab es etwas Luft. Nahm der Kanton dann weniger ein, wurde gleich nach Sparmassnahmen gerufen. Jetzt haben wir ein mehr oder weniger komfortables Eigenkapitalpolster. Nun sollte man in einen gut alimentierten Klimafonds investieren. Auch die Kultur wird zu stiefmütterlich behandelt.Diese Forderungen machen Sie wohl für einen grossen Teil der Bevölkerung unwählbar.Ich bin seit neun Jahren im Parlament, kenne die Abläufe und Spiele und weiss, wo man ansetzen muss, um etwas zu verändern. Wenn ich sehe, dass mittelständische Familien ihre Krankenkassenprämien nicht mehr bezahlen können, sind das für mich nicht primär linke Positionen. Sie sind eine Notwendigkeit.Wer soll das SP-Präsidium von Christian Levrat übernehmen?Es liegt mir fern, hier Wünsche anzubringen. Es stehen viele fähige, motivierte Personen bereit. Ich hoffe aber sehr, dass es eine Frau wird.Sie nennen bewusst keine Namen. Was ist mit der St.Galler Nationalrätin Barbara Gysi?Sie ist eine sehr fähige, bestens vernetzte Frau. Es wäre toll für St.Gallen und die Ostschweiz, sollte sie zum Zug kommen. Ich traue ihr das voll und ganz zu.Diese Woche wurde ausgiebig über Vor- und Nachteile von Co-Präsidien diskutiert. Sie haben Erfahrung damit.Ich finde es grundsätzlich ein gutes Modell. Mit der Co-Leitung der Fraktion im Kantonsparlament fahren wir sehr gut. Es hängt natürlich immer davon ab, wer es macht, wie man zusammenarbeitet und sich organisiert.Die nationalen Wahlen haben einen klaren Trend nach linksgrün gezeigt, auch in St.Gallen. Ist die Regierung noch richtig zusammengesetzt?Das kann man sich überlegen. Linksgrün vertritt einen Viertel der Bevölkerung. Wir haben Anspruch auf unsere zwei Sitze.Und was ist mit den Grünen?Ich hätte natürlich nichts gegen zwei SP-Sitze und einen für die Grünen. ­Wobei eine gewisse Beständigkeit auch wichtig ist. Es bringt nichts, bewährte Zusammensetzungen nach jeder Wahl über den Haufen zu werfen.Die Grünen haben national stark zugelegt, die SP verloren. Was machen die Grünen besser?Es wird im Moment zu wenig wahrgenommen, dass sich die SP seit Jahren für eine gute und fortschrittliche Klimapolitik einsetzt. Wir haben ein Wahrnehmungsproblem.Was tut Ihre Partei dagegen?Wir müssen deutlich machen, dass wir in der Klimafrage sehr wohl auch führend sind.Sie leben im Rheintal. Sehen Sie sich als Vertreterin des Landes?Ja. Ich bin im Rheintal geboren, habe dort die Schulen besucht und bin dort verwurzelt.Obwohl das Rheintal eine SVP-Hochburg ist?Gerade deshalb weiss ich genau, wie ich mich verhalten muss, um auch in einem rechtsbürgerlich dominierten Umfeld gehört zu werden. Vor allem aber muss man die Menschen und ihre Sorgen und Nöte ernst nehmen.Wie viele Spitäler braucht es künftig im Kanton noch?Die Grund- und Notfallversorgung in den Regionen muss gesichert sein und es sollte sinnvolle ergänzende Angebote geben. Der Vorschlag der Regierung, eigentlich ein Kahlschlag, ist aber keine Lösung. Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung will.Was darf diese kosten?In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wie viel der Kanton für diesen Service public in die Hand nehmen will.Bleibt Ihnen heute neben Familie, Beruf und Politik noch freie Zeit?Definitiv. Für mich müssen Job oder auch Amt in einem Zeitraum erfüllt werden können, dass man nicht ausbrennt.Spielen Sie noch Klarinette?Für den Wahlkampf bin ich von der Musikgesellschaft dispensiert, wo ich seit 20 Jahren spiele. Wobei ich noch nie die fleissigste Probenbesucherin war. Zur Person: Juristin und RheintalerinDie promovierte Juristin Laura Bucher wurde am 5. August 1984 geboren und lebt in St.Margrethen. Die Mutter von zwei Buben im Alter von viereinhalb und drei Jahren arbeitet als Gerichtsschreiberin am Bundesverwaltungsgericht in St.Gallen. Seit 2010 politisiert sie für die SP im St.Galler Kantonsparlament. Sie ist an der Seite von Bettina Surber Co-Präsidentin derFraktionvon SP und Grünen und Mitglied der Finanzkommission. Ihre politischen Schwerpunkte liegen in der Steuer- und Finanzpolitik, und sie setzt sich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Chancengleichheit ein. (oh/rw)

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