28.12.2018

«Ich kann nicht jedem helfen»

Während viele Menschen Weihnachten mit ihrer Familie verbringen, gibt es Menschen, die mit ihrem Alltag nicht klarkommen, einsam sind und Hilfe brauchen. Für sie hat Frau L*. stets ein offenes Ohr.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin Schmid«Ich kann mich noch gut an mein erstes Gespräch erinnern», sagt Frau L. aus Altstätten, «ich war angespannt und voller Erwartungen.» Eine Frau habe sie mit unsicherer Stimme gefragt, ob sie Zeit habe. Bereits nach wenigen Sekunden liess die Nervosität nach und wich Aufmerksamkeit. Zweifelsohne haben die gute Vorbereitung des Ausbildungskurses und die begleiteten Gespräche geholfen, mit der Situation klarzukommen. «Die Dargebotene Hand erteilt keine Ratschläge, sondern versucht, die Leute zum Denken anzuregen», sagt die 64-Jährige. Oft sei es wichtiger, den Menschen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Diese Maxime war vor vier Jahren, als Frau L. ihre Ausbildung bei der Dargebotenen Hand absolvierte, ebenso aktuell wie heute. Seither hat sie unzählige Telefonate geführt, hat von unglaublichen Schicksalsschlägen gehört und verstörende Lebensbiografien geschildert bekommen. Frau L. hat kein spezielles Telefonat in Erinnerung behalten, sondern wurde von einer Reihe von Gesprächen emotional berührt. Meistens seien die Anrufer durch eine Kette von Ereignissen in eine Abwärtsspirale geraten und fänden keinen Weg mehr hinaus. Was vor Jahren von einem Einzelerlebnis ausgelöst wurde, z. B. einer Demütigung, einem Verlust oder einem Unglück, steigert sich über die Jahre zu unsäglichem Leid. Alltagsbewältigung und psychische Leiden«Viele, die bei uns anrufen, sind einsam und fühlen sich allein gelassen. Sie wollen, dass ihnen jemand zuhört und Halt im Alltag bietet», sagt die Altstätterin. Seit Jahren stehen psychische Leiden und Probleme bei der Alltagsbewältigung an oberster Stelle der angesprochenen Themen.2018 suchten rund 20 Prozent der anrufenden Personen Unterstützung für die Bewältigung des Alltags, weitere knapp 18 Prozent sind psychisch beeinträchtigt oder chronisch krank. Diese Anrufenden sind schon seit langem mit denselben Themen beschäftigt und brauchen Tel 143 einerseits zur kurzzeitigen Entlastung, andererseits zur Kompensation fehlender Beziehungen. Fast die Hälfte der Anrufenden steht in regelmässigem Kontakt mit den freiwilligen Mitarbeitenden der Dargebotenen Hand. Rund 30 Prozent sind Mehrfachanrufer. Oft seien Beziehungsthemen Anlass für ein Gespräch. Beziehungen in der Familie, in einer Partnerschaft oder Beziehungen unter Freunden. Auch sei die Einsamkeit ständiger Begleiter in den Gesprächen, daher seien primär aktives Zuhören, Verständnis und Ermutigung gefragt. Darüber hinaus gebe es eine Vielzahl von Voraussetzungen, die für die Ausübung dieser Arbeit dienlich sind: körperliche und seelische Belastbarkeit, Offenheit für die Probleme der Menschen Toleranz und Verlässlichkeit sowie Verschwiegenheit und Diskretion. Nebst dem Zuhören und Reden sei das Lachen besonders wichtig, weiss die ausgebildete Pflegefachfrau. «Menschen in Not zum Lachen zu bringen, ist ein bewährtes Hilfsmittel in unseren Beratungsgesprächen.»Nicht immer helfen könnenObwohl Humor die beste Medizin ist, sei es ihr nicht immer zum Lachen zumute. «Die Probleme der Frauen und Männer nehmen mich teilweise sehr mit», sagt Frau L., «einerseits berühren mich die tragischen Geschichten, andererseits stosse ich auch an meine Grenzen.» Bevor Gespräche destruktiv und beleidigend werden, beendet sie diese. Damit sie die aufwühlenden Gespräche nicht mit nach Hause trägt, vollführt sie ein Ritual: Bevor sie den Arbeitsplatz verlässt, zieht sie symbolisch ihr «Arbeitsgewand» aus und lässt damit die Probleme am Arbeitsort. Besonders schwierig sei es, wenn sich Hilfesuchende nicht mehr melden. «Dann frage ich mich, wieso ich diese Person nicht erreichen, ihr nicht helfen konnte?», sagt die Rheintalerin. «In diesen Situationen muss man akzeptieren, dass man nicht al­-len helfen kann.» Sie biete ihre Hilfe an, wenn sie genutzt wird, sei das sehr schön, wenn nicht, liege es nicht in ihrer Macht, dies zu ändern. *Name der Redaktion bekannt

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.