04.05.2021

«Ich habe Mühe mit Ungerechtigkeit»

Armut zu bekämpfen, ist ihr Job. Katrin Rosenberg, aufgewachsen in Rebstein, unterstützt als Projektleiterin Menschen in Bangladesch.

Von Interview: Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Seit über zehn Jahren ist die 39-Jährige in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Ein Privileg, sagt sie. Katrin Rosenberg besuchte die Kantonsschule Heerbrugg und studierte an der Universität St. Gallen sowie an der ETH Zürich. Sie leistet Einsätze für die Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas.Wo halten Sie sich derzeit auf?Katrin Rosenberg: Zu Hause in Dhaka an meinem Pult, ich schaue hinaus auf Wohnblocks und eine Kirche. Ich habe das Glück, auch Bäume und Grünes zu sehen. Es ist Sonntag, in Bangladesch eigentlich ein Arbeitstag, da das muslimische Land nur den Freitag als Wochenende kennt. Aber ich habe einen Tag frei genommen. Es ist warm, ja heiss. Nach dem eher kühleren Winter braucht mein Körper jeweils etwas Zeit, sich an Temperaturen über 30 Grad und Luftfeuchtigkeit um 80 Prozent zu gewöhnen.Was hat Sie zur Entwicklungszusammenarbeit bewogen – zuerst in Sri Lanka, nun in Bangladesch?Es gibt kein Schlüsselerlebnis als solches. Ich hatte aber schon immer einen Sinn für Gerechtigkeit. Oder anders gesagt: Mühe mit Ungerechtigkeit und Mitgefühl mit benachteiligten Menschen. Zudem haben mich fremde Länder immer fasziniert. Vielleicht, weil meine Mutter mir früh Fotos ihrer Reisen zeigte? Ich begann, selbst zu reisen. Erst, um Sprachen zu lernen, dann absolvierte ich ein Praktikum in Peru. Da war für mich klar, dass ich versuchen möchte, in der Entwicklungszusammenarbeit Fuss zu fassen – und ich habe das Glück und Privileg, dass es geklappt hat.[caption_left: Bild: Helvetas]Inwiefern empfinden Sie Ihre Arbeit als Privileg?Hier in Bangladesch ist die Armut offensichtlich. Auch in den besten Quartieren der Stadt finden sich an jeder Ecke ärmlich gekleidete Menschen, die auf der Strasse ihr Nachtlager aufschlagen und tagsüber betteln oder versuchen, etwas zu verkaufen. Diese Präsenz der Armut ist manchmal schwer zu ertragen. Gleichzeitig hält sie mir immer wieder vor Augen, wie privilegiert ich bin – und dass mit solchen Privilegien eben auch die Verantwortung einher geht, im Rahmen des Möglichen etwas zu einer «besseren Welt» beizutragen. Dass ich dies im Rahmen meines Berufes kann und darf, erfüllt mich mit Zufriedenheit.In welchen Situationen befinden sich die Menschen, die Sie unterstützen?Das Projekt, das ich leite, unterstützt Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Das sind oft schlecht ausgebildete Menschen, die wegen fehlendem Einkommen in ihrer Heimat zu Tausenden in den Golfstaaten Arbeit suchen. Dort schuften sie zu niedrigsten Löhnen – oft als Bauarbeiter, Putzkräfte, Hausangestellte oder Gärtner. Viele werden ausgebeutet, ihre Arbeits- und Menschenrechte werden verletzt. Wir arbeiten hauptsächlich mit Bangladeschi, die sich überlegen, zu migrieren. Ihnen fehlen meist objektive Informationen, um einen durchdachten und für ihre Familien guten Entscheid zu treffen – sowohl finanziell als auch sozial.Was ist ihre Hauptaufgabe als Helvetas-Teamleiterin?Oft am Computer zu sitzen (lacht). Auf den ersten Blick sieht die Arbeit nicht viel anders aus als in einem Schweizer Büro: Ich schreibe E-Mails, Berichte und überwache die Finanzen unserer Aktivitäten. Ich verbringe aber auch viel Zeit mit meinen Bangladescher Mitarbeiterinnen und mit lokalen Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten. Die Highlights sind jedoch die Momente, wenn ich «aufs Feld» kann und direkt mit denjenigen Menschen spreche, die wir unterstützen.[caption_left: Bild: Helvetas]Wie haben Sie sich auf die Auslandeinsätze vorbereitet?Ich durfte immer selbst entscheiden, ob ich eine Aufgabe in einem bestimmten Land wahrnehmen möchte. Für meine beiden längeren Einsätze von über einem Jahr in Sri Lanka und nun in Bangladesch hatte ich jeweils den Vorteil, dass ich das Land und das Team schon im Vorfeld kennenlernen und mir so ein Bild von einem zukünftigen Leben machen konnte.Was braucht es, um erfolgreich Entwicklungsarbeit im Ausland zu leisten?Zunächst die Erfahrung und das Fachwissen, wie man Wasserversorgung, Schulbildung, klimaresilientere Landwirtschaft oder Arbeitsmigration verbessern kann. Ebenso wichtig ist, sich mit lokalen Organisationen, Behörden und dem Privatsektor zu vernetzen, denn nur gemeinsam kommen wir ans Ziel. Wichtig sind zudem Geduld und die Überzeugung, dass sich etwas zum Besseren ändert: sowohl im «Kleinen» bei den unterstützten Familien, wie auch im «Grossen», in Bezug auf bessere Systeme.Oft wird Kritik laut, Spendengelder würden in der Administration der Hilfsorganisationen versickern.Als Nicht-Profit-Organisation ist uns sehr wichtig, so viel Geld wie möglich direkt den Menschen zugutekommen zu lassen, die es wirklich brauchen. Dies professionell zu tun, verursacht auch Administrationskosten. Über diese informieren wir transparent: Über 90 % der Gelder fliessen in die Programme von Helvetas. Für die Administration brauchen wir rund 3,5 %, für die Mittelbeschaffung etwa 6 %. Diese Kosten sind vergleichsweise bescheiden. Helvetas ist zudem Zewo-zertifiziert; das ist eine Garantie dafür, dass wir die Spendengelder zweckbestimmt und wirtschaftlich einsetzen.Wie werden Sie für Ihre Arbeit entlöhnt?Für mich ist die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit ein wichtiger «Lohn»: Ich sehe, dass wir die Armut bekämpfen und Menschen nachhaltig zu einem besseren Leben verhelfen können. Finanziell stimmt für mich die Entlöhnung ebenfalls.[caption_left: Bild: Helvetas]Was unternehmen Sie in ihrer Freizeit?Ich mache viel Yoga. Und am frühen Freitagmorgen bietet sich jeweils eine Möglichkeit, der Grossstadt zu entfliehen: Mit dem Velo geht’s mit einer Gruppe Gleichgesinnter über verkehrsreiche Hauptstrassen und danach über immer unbefestigtere Strassen, um die umliegenden Dörfer zu erkunden. Auch für touristische Ausflüge habe ich Zeit gefunden: Ich durfte die Sundarbans, den grössten Mangrovenwald der Welt, auf einer viertägigen Bootsfahrt besuchen, sowie den längsten Sandstrand, wo ich mich dem Surfen widmete – zusammen mit einer wachsenden Bangladeschi-Surf-Community.Wie gelingt es, in einem fremden Land soziale Kontakte zu pflegen?Freundschaften zu knüpfen mit anderen Expats ist einfach: Die meisten sind in einer ähnlichen Situation und daher sehr offen. Auch die Bangladeschi sind extrem gastfreundliche Menschen und haben ein grosses Interesse, sich mit den Bideshi (den Ausländern) zu unterhalten. So ergeben sich viele schöne Begegnungen, aus denen Freundschaften wachsen.Hat auch der Wunsch nach einer eigenen Familie oder einer Partnerschaft Platz?Ja. Für viele Bekannte in meinem Alter ist es allerdings nicht immer ganz einfach, Beziehung, Familie und einen solchen Job unter einen Hut zu bringen. Auch für mich. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. In meinem Fall ist es eine Distanzbeziehung mit häufigen Besuchen in der Schweiz.[caption_left: Bild: Helvetas]Was vermissen Sie an Ihrer alten Heimat und was nicht?Ich vermisse meine Familie und Freunde, die Berge und die Natur. Was mir nicht fehlt: Menschen, die sich über kleine, irrelevante Details ärgern, zum Beispiel über einen leicht verspäteten Zug. Es gibt doch ganz andere Probleme auf dieser Welt. Aber ich gebe zu: Bin ich länger in der Schweiz, ertappe ich mich ebenfalls dabei, irritiert zu sein, wenn ein Zug mal zehn Minuten Verspätung hat.Wann waren Sie zuletzt im Rheintal?Ich wohne seit längerer Zeit nicht mehr im Rheintal. Aber letztes Jahr musste ich wegen Corona von Bangladesch zurückkehren. Da ich keine eigene Wohnung mehr habe in der Schweiz, wurde ich zur Nomadin und habe unter anderem mehr Zeit bei meinen Eltern in Marbach und Heerbrugg verbracht. Dabei habe ich das Rheintal neu schätzen gelernt. Die wunderbare Natur, die Weite, der Rhein und Berge so nah.Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?Seit September bin ich wieder in Bangladesch, mein Vertrag läuft rund drei Jahre. Was danach kommt, wird sich zeigen. Ich vermisse die Natur. Auch wenn ich auf Bäume und Grünes sehe, ist das Grossstadtleben auf längere Zeit nichts für mich.[caption_left: Bild: Israel Fuguemann] Wer ist «Helvetas»?Helvetas ist eine unabhängige Schweizer Organisation für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, die in rund 30 Ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Die Vision: Engagement für eine gerechte Welt, in der alle Menschen selbstbestimmt in Würde und Sicherheit leben, die natürlichen Ressourcen nachhaltig nutzen und der Umwelt Sorge tragen. (pd)Ausbildung Katrin Rosenberg: Master of Arts International Affairs and Governance (Universität St. Gallen), Master of Advanced Studies in Development and Cooperation (ETH Zürich) Nach Bangladesch ausgereist ist sie 2020. (hb)

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