28.04.2020

«Ich durfte nicht Abschied nehmen»

Jeanne Widmer Mösli trauert um ihren Ehemann. Er starb Anfang April und wurde im engsten Kreis bestattet.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Es ist ein sonniger und warmer Apriltag. Der Sitzplatz im Garten von Jeanne Widmer Mösli liegt ruhig und im Schatten. Auf dem Tisch stehen ein Blumenstrauss und eine brennende Kerze. Auf einer Fotografie lächelt ein Mann. Es ist ein Bild von Rolf Mösli. Daneben liegt ein Buch über Eugen Bleuler. Auf der ersten Seite steht eine Widmung geschrieben, sie ist Ausdruck von Dankbarkeit und Wertschätzung. Erst wenige Tage sind vergangen, seit Jeanne Widmer ihren Ehemann bestattet hat.Die 80-jährige Frau lebt wieder ganz allein in ihrem Haus. Wäre da nicht Kira. Die fünfjährige Hündin weicht Jeanne Widmer nicht von der Seite. Die Journalistin hält zwar den Sicherheitsabstand, den die Coronapandemie gebietet. Aber Kira scheint zu spüren, dass es gut ist, nun die Nähe ihrer Gefährtin zu suchen.Jeanne Widmer Mösli vermisst ihren Mann. Sie empfindet es als schlimm, ihn nicht in den Tod begleitet haben zu können. «Ich habe nicht Abschied nehmen dürfen», sagt sie. Als ihr 87-jähriger Mann im Spital gelegen hat, hat Jeanne Widmer zwei Wochen in Quarantäne verbringen müssen. Ein Test hat bestätigt, dass sie Trägerin des Coronavirus gewesen ist. Ganz am Anfang hat sie mit ihrem Mann im Spital telefoniert.«Meine Dankbarkeit überwiegt meine Traurigkeit», sagt sie. Dankbar ist die Witwe dafür, dass ihr Mann nicht lange gelitten hat. «Ich habe gewusst, dass er abgeschlossen hat und habe ihn gehen lassen.»Das späte gemeinsame Glück ausgekostetDankbar ist die Seniorin auch für zwanzig gemeinsame Jahre, in denen das Ehepaar viel Schönes und ein spätes Glück miteinander erlebt hat. Als Jeanne Widmer 1999 Rolf Mösli kennenlernte, lebte sie schon einmal allein in ihrem Haus in Kriessern. Ihre Mutter, mit der sie im Jahr 1975 von Rheineck hierher gezogen war, war vier Jahre zuvor gestorben. Rolf Mösli war damals frisch pensioniert und lebte in Kilchberg. 2004 wurde auch Jeanne Widmer pensioniert. Sie hatte dreissig Jahre lang in der Schlossvilla in Heerbrugg gearbeitet, unter anderem als Sekretärin von Max Schmidheiny. Die 64-jährige Ledige heiratete nun den 71-jährigen Witwer.Jeanne Widmer hatte die Zeit – von 1971 bis 1999 – nicht an der Seite Rolf Möslis erlebt. Seinerzeit war er als Psychiatriepfleger in Eugen Bleulers «Werkstatt Burghölzli» (psychiatrische Universitätsklinik Zürich) tätig.Auch erfuhr sie erst später davon, dass ihr Ehemann das öffentlich zugängliche Burghölzli-Museum im Juni 1989 gegründet hatte. Rolf Mösli hatte dort die Entwicklung der 130-jährigen Zürcher Psychiatriegeschichte dargestellt. In Archiven der Klinik hatte er aufschlussreiche Dokumente und zahlreiche alte Behandlungshilfsmittel wie Gurt, Zwangsjacke oder Deckelbad zusammengetragen. Die Gegenstände dienten einst dazu, aufgeregte Patienten ruhigzustellen.«Zweimal habe ich erlebt, wie lebendig und frei er erzählt hat, während er Besucher durch das Museum führte», sagt Jeanne Widmer. Jährlich brachte Rolf Mösli 1600 Besuchern aus dem In- und Ausland die Geschichte vom Burghölzli näher. Er hatte sein Herzblut in das Museum gesteckt. «Es war ganz schlimm für ihn, als das Museum im Jahr 2001 geschlossen wurde», sagt Jeanne Widmer. «Der Verwaltungsdirektor wollte den Platz für Verwaltungsräume nutzen und die Exponate zum Flohmarkt bringen.»Soweit kam es jedoch nicht. Das Museum wurde zwar geschlossen, die Ausstellungsstücke aber übernahm die Denkmalpflege des Kantons Zürich. Sie inventarisierte und bewahrte alle 2307 Positionen. «All das habe ich miterlebt und ihn aus seiner Krise herausgeführt.»Wohnstube war eine SchreibstubeDie Geschichte der Psychiatrie in der Schweiz liess Rolf Mösli nicht los. «Fünf Jahre lang war unsere Stube eine Schreibstube», sagt Jeanne Widmer. Sie hatte ihren Mann darin unterstützt, sein Berufsleben aufzuarbeiten und das heute auf dem Gartentisch liegende Buch über Eugen Bleuler herauszugeben. Rolf Mösli hatte recherchiert, Schriften zusammengestellt und einige Texte geschrieben. Sein Ansinnen war, die Fachwelt und alle an Psychiatrie Interessierten mit der menschlich-emotionalen Seite Eugen Bleulers vertraut zu machen. Im Jahr 2012 erschien das Buch über den «Pionier der Psychiatrie» im Römerhof Verlag. Rolf Mösli durfte das Buch herausgeben, weil er die Rechte der Familie Bleuler hatte. An einem Symposium zum 150. Geburtstag Eugen Bleulers traf Rolf Mösli dessen Enkelin, Tina Joos-Bleuler. Spontan sagte sie ihm zu, er dürfe über ihren Grossvater schreiben.Es fällt Jeanne Widmer nicht leicht, in der Isolation der Pandemie zu trauern. Zur Bestattung ihres Mannes durften nur wenige Menschen kommen. «Rolf ist ein Glückspilz», sagt seine Witwe und strahlt Zuversicht aus. Ihr Mann habe sich immer eine kleine Beerdigung gewünscht und nun auch bekommen.«Die Dunkelheit ist gewichen», sagt Jeanne Widmer. «Ich bin traurig, zerbreche aber nicht daran.» Die Witwe hat noch keine Pläne, was sie nach der Isolation unternehmen will. «Ich lasse es auf mich zukommen.» Gewiss wird sie ihre Freundschaften pflegen.

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