23.02.2022

«Ich bin nicht schlecht, nur anders»

Traumatische Erlebnisse und fehlende Wertschätzung in der Jugend führten bei Katja Bruderer zu einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
Katja Bruderer war 13 Jahre alt, als sie mit dem Velo von Marbach nach Widnau in die Badi fuhr. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr ein Mann folgte. Voller Angst trat das Mädchen in die Pedale – doch der Mann kam immer näher, bis er es schliesslich einholte. Er versuchte, Katja Bruderer zu stoppen, wurde handgreiflich und belästigte sie sexuell. «Zum Glück konnte er mich nicht vom Velo zerren», sagt die heute 44-Jährige. Der Mann habe schliesslich von ihr abgelassen und die Flucht ergriffen.Alltag ging weiter, als wäre nichts passiertIn der Badi Widnau traf Katja Bruderer dann auf Verwandte und berichtete ihnen, was vorgefallen war. Statt Mitgefühl und Verständnis zu zeigen, gab man ihr zu verstehen, dass das Erlebte jedem einmal passiere und nicht so schlimm sei. Am nächsten Tag ging Katja Bruderer dennoch mit ihren Eltern zur Polizei. Der Polizist machte ihr Glauben, sie sei selbst schuld an dem Vorkommnis. Er habe nichts weiter unternommen und den Vorfall unter den Tisch gekehrt, erinnert sich die 44-Jährige. Vielleicht hätte der Täter gefasst werden können, denkt sie noch heute. Aber man habe sie nicht ernst genommen und ihr Hilfe verwehrt. Der Alltag ging weiter, als wäre nichts passiert.Statt auf Empathie stiess Katja Bruderer immer wieder auf Ablehnung und Unverständnis. Ihre beiden Brüder erhielten den Vorrang, ihnen schenkten die Eltern die ganze Aufmerksamkeit. Sie jedoch sei genug gewesen, zu waschen, zu kochen und zu putzen. Sie habe alles unternommen, um ein wenig Anerkennung zu erhalten, reihte Ausbildung an Ausbildung, doch nichts genügte. «Ich war ein ruhiges Kind, hatte wenig bis keine Freunde, ich war aber empfindsamer als andere Kinder», sagt Katja Bruderer, und weiter: «Schon damals hatte ich Angst vor dem Verlassenwerden und konnte nicht allein sein.» Es war ihr seinerzeit nicht klar, dass sie stärker fühlte als andere Menschen und die Welt deshalb anders wahrnahm. Sie wusste nur, dass sie nicht so war, wie ihr Umfeld sie gerne hätte. Oft wurde ihr gesagt: «Du musst dich anpassen und Gewicht verlieren, sonst wird es schwierig für dich im Leben.»«Ich stiess wiederholt an meine Grenzen»Aus dem Gefühl heraus, nicht zu genügen, lief Katja Bruderer Gefahr, sich zu überarbeiten. Ein erstes Mal, sie war damals 25, brauchte sie aufgrund der hohen Belastung eine Auszeit. In der Folge wechselte sie immer wieder den Job, um an neuer Wirkungsstätte durch übermässigen Einsatz die erhoffte Anerkennung zu erhalten. Als dann erst ihr Vater und kurze Zeit später ihre Mutter ins Krankenhaus mussten und ums Überleben kämpften, kümmerte sie sich zu Hause um alles. «Ich bin an meine Grenzen gestossen, und es wurde mir nicht einmal gedankt», erinnert sie sich. «Das war der Zeitpunkt, als ich zum ersten Mal an Suizid dachte.» Durch einen Sprachaufenthalt versuchte sie, Abstand zu gewinnen. Doch die innere Anspannung kam bald zurück. Im Skiurlaub mit Freunden seien diese schockiert gewesen, wie verändert und verletzlich Katja Bruderer war. Statt Party zu machen, blieb sie im Haus. Irritiert über ihr Verhalten brachen die Freunde die Ferien ab. Für die Widnauerin Anlass genug, einen Psychiater aufzusuchen.Ohne weiterführende Abklärungen habe dieser eine Depression aufgrund des Übergewichts diagnostiziert. Katja Bruderer empfand das als «Hohn» und stürzte sich, einmal mehr, in eine neue Arbeit. Zwei Jahre lang lief es relativ gut, die innere Anspannung habe sie mit grossem Arbeitseinsatz unterdrückt. Erneut kam es später jedoch zu einer Erschöpfungsdepression und Katja Bruderer benötigte eine Auszeit. Doch der gewünschte Effekt blieb diesmal aus, sie wurde krankgeschrieben und hatte einen Nervenzusammenbruch. Ihre Eltern schickten sie ins Spital, wo kein psychiatrisches Gutachten erstellt, sondern Medikamente verschrieben wurden, so Katja Bruderer.«Endlich eine Erklärung, dass ich anders bin»Unter Aufsicht ihrer Eltern durfte sie nach Hause. Dort, so empfand sie es, stieg der Druck der Eltern stetig an. «Mir wurde vorgeworfen, zu simulieren und zu faul zum Arbeiten zu sein», sagt die Widnauerin. Statt sich auszuruhen, stürzte sie sich in ein Praktikum und bekam gleichzeitig immer mehr Medikamente verschrieben. Wegen der Überdosierung entwickelte sie selbstverletzende Verhaltensweisen. Bruderer begann, sich im Internet zu informieren und tauschte sich mit Depressionsbetroffenen aus. Schliesslich liess sie sich in die Klinik Pfäfers einliefern, wo ihr erstmals die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) diagnostiziert wurde. «Ich bekam endlich eine Erklärung, dass ich anders bin», sagt Katja Bruderer. Auf einem Forumstreffen in Bern lernte sie ihren jetzigen Lebenspartner kennen. Trotz der Diagnose stiess sie bei ihren Eltern weiterhin auf Unverständnis. Um den «Schein zu wahren», verleugneten sie die Krankheit ihrer Tochter und damit auch ihre Tochter, so sah es Bruderer. Deshalb zog sie zuerst von Zuhause aus und brach 2012 den Kontakt zu ihren Eltern ab. Es ist Katja Bruderer wichtig zu erwähnen, dass die Geschichte aus ihrer Sichtwei-se erzählt wird: «Meine Eltern sind nicht die Bösen, sie haben mich einfach anders wahrgenommen.»Lernen, den eigenen Emotionen zu vertrauenZu jener Zeit lernte Katja Bruderer Andreas Schlaszus, Geschäftsführer der psychiatrischen Spitex Ostschweiz, kennen. Er hilft ihr, das entstandene Chaos anzugehen und ermutigt sie, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie lernt, nicht nur über ihre Probleme zu sprechen, sondern auch, wie sie mit ihren Emotionen umgehen kann, ohne ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Ihr Partner gibt ihr das Urvertrauen, welches ihre Eltern ihr nie geben konnten. Schritt für Schritt lernt sie, den eigenen Emotionen zu vertrauen. Mit Unterstützung aus ihrem Umfeld gründete sie 2017 den Skills-Shop: von Betroffenen für Betroffene. Dank der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) braucht sie heute weniger Medikamente und steigert langsam ihr Selbstwertgefühl. «Ich kämpfe jeden Tag», sagt Katja Bruderer, «und heute weiss ich: Ich bin nicht schlecht oder falsch, nur anders.»Weitere Informationen zum Skills-Shop finden sich hierNachgefragt:Schädigung in der Identitätsentwicklung begünstigt BPS Als Geschäftsführer der Psychia­trischen Spitex Ostschweiz begleitet Andreas Schlaszus Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Im Interview er­zählt er, was eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist und wer davon betroffen sein kann. Zudem spricht er über Ursachen und Therapien.[caption_left: Andreas Schlaszus.]Was ist unter Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) zu verstehen? Andreas Schlaszus: Das Borderline-Syndrom ist eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, gekennzeichnet von Impulsivität und Instabilität. Gefühle, Gedanken und Einstellungen könne sich ständig ändern, ohne dass die betroffene Person dies kontrollieren kann.Wer ist von BPS betroffen? Das Geschlecht spielt keine Rolle. Bei uns in der ambulanten psychiatrischen Pflege haben wir deutlich mehr Frauen. Dies führen wir auf unsere Erfahrungen zurück, dass die Therapiebereitschaft bei Frauen höher ist. BPS entwickelt sich oft in der Jugend beziehungsweise im jungen Erwachsenenalter. Wobei die Auslöser häufig schon in der Kindheit zu finden sind.Welche Symptome zeigen Betroffene und welche Verhaltensmuster gibt es? Die Liste der Symptome ist lang und die Verhaltensmuster sind sehr individuell. Die Betroffenen können unsicher und impulsiv sein, unter Gefühlsstürmen wie Wutausbrüchen leiden, sich selbst verletzen oder auch versuchen, sich das Leben zu nehmen. Um Spannung abzubauen, kann es auch zu anderem selbstzerstörerischem Verhalten kommen, etwa in Form von Drogenexzessen, Risikosex, Raserei mit dem Auto usw. Auch kommen Symptome der Dissoziation, das Gefühl der totalen Leere und Langeweile und das Anzeichen für Schwarz-Weiss-Denken vor. Letzteres macht es vor allem für sämtliche Sozialkontakte schwierig, da Personen idealisiert werden und bei Enttäuschungen dann ex­trem abgewertet werden. Struktur und stabile Beziehungen sind daher für viele Menschen mit BPS ein grosses Problem. Angst vor Nähe und Zuneigung wechselt mit der Angst allein zu sein. In der Beziehung macht sich dies dann durch extremes Klammern und Abweisung bemerkbar.Was sind die Ursachen, die zu einer BPS führen können? Häufig sind Traumata Auslöser. Diese können körperliche Gewalt oder sexueller Missbrauch sein, aber auch seelische Misshandlungen wie Mobbing. Emotionale Vernachlässigung durch fehlende Zuwendung oder mangelnde Anerkennung durch Bezugspersonen können ebenso zu einer Erkrankung an der Borderline-Persönlichkeitsstörung führen wie die Scheidung der Eltern oder der Tod von nahestehenden Personen. Auch können BPS Familiengehäuft auftreten.Ist BPS heilbar respektive wie wird BPS behandelt? Es wird keine vollständige Heilung geben, aber die Betroffenen können lernen, ihren Alltag zu meistern, indem sie die gravierendsten Auswirkungen der Störung in den Griff bekommen. Dabei kommt es immer darauf an, wie schwer die jeweiligen Symptome sind. Stabile soziale Kontakte wie lange dauernde Partnerschaften oder eine Ehe können unterstützend für die Betroffenen sein. Auch reduzieren sich im Krankheitsverlauf oftmals mit den Jahren die impulsiven Symptome, da die Klienten wissen, was ihnen guttut. Verhaltenstherapeutisch haben sich die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) oder Schematherapie/schemafokussierte Therapie bewährt. Wir machen sehr gute Erfahrungen in der aufsuchenden psychia­trischen Pflege. Dies bietet den Vorteil, direkt vor Ort un­ter Einbezug der privaten und/oder häuslichen Situation mit der Person zusammenzuarbeiten. 

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