23.02.2022

«Ich begegne allen als Menschen»

Abdelhafid Boulahcen betreut als muslimischer Seelsorger die Asylsuchenden in Altstätten.

Von Meret Bannwart
aktualisiert am 02.11.2022
Ein freundliches Gesicht ist besser als Kisten voller Gold, besagt ein arabisches Sprichwort. Und ein freundliches Gesicht bringt er den Asylsuchenden entgegen: Abdelhafid Boulahcen. Kommt er im Bundesasylzentrum Altstätten vorbei, ist etwas los. Hier einen Kaffee, dort ein Händeschütteln. Mit ausgestreckter Hand geht er auf die Leute zu. Er ist ein gefragter Mann. «Wenn ich hier bin, dann führe ich acht bis zehn halbstündige Gespräche am Tag. Dazwischen kommen noch zehn weitere Personen vorbei, die einfach nur kurz mit mir sprechen wollen», erklärt der 59-Jährige. Als muslimischer Seelsorger ist er eine wichtige Bezugsperson für die Flüchtlinge im Bundesasylzen­trum. Zweimal pro Woche kommt er hierher.Doch zwingend theologischer Natur sind seine Gespräche nicht. Die Asylsuchenden möchten mit jemandem über ihre Fluchterfahrung sprechen, den Heimatverlust, den Fa­milienverlust, sexuellen Missbrauch und die Traumata während der Flucht, ihre Schlafstörungen, ihre Ängste oder über den pendenten Asylentscheid, der belastet. Der Glaube und die Gebete könnten den Menschen Hoffnung geben und sie auf­bauen. Gerne erzählt Boulahcen Geschichten, doch was zwischen den Asylsuchenden und ihm besprochen werde, das bleibe unter ihnen. Denn es gilt Schweigepflicht.Mit Fingerspitzengefühl Unterschiede überwindenEr hat ein offenes Ohr für die Asylsuchenden, unabhängig davon, welchen Hintergrund sie mitbringen. Der Islam ist, wie die meisten Religionen, von Vielfalt geprägt. Und so treffen im Ostschweizer Asylzentrum alle aufeinander: ob Sunniten, Schiiten, streng religiös oder weniger. Muslime und Musliminnen aus aller Welt und unterschiedlichen Kulturen. Für Boulahcen ist es kein Problem, sie alle unter einen Hut zu bringen und zu betreuen, es brauche einfach Fingerspitzengefühl. «Es gibt auch nicht religiöse Asylsuchende. Das spielt keine Rolle. Ich begegne allen als Menschen und höre ihnen zu, nur so kann ich ihnen gerecht werden», sagt Boulahcen. Er finde es schön, dass hier alle zusammenleben und miteinander auskommen würden. Was die Flüchtlinge verbinde, ist ein gemeinsames Ziel: «Sie suchen Sicherheit und ein neues Leben.»Ein Gespür für ZwischenmenschlichesAbdelhafid Boulahcen ist ein vielseitiger Mann. Das sieht man an seiner beruflichen Laufbahn. Zuerst war er im Verkauf tätig, in leitender Position. So kam es auch, dass er oft bei Problemen unter den Mitarbeitenden vermitteln musste und sein Gespür für Zwischenmenschliches entdeckte. Danach wollte er sich neu orientieren und hat sich zum Sophrologen weitergebildet. Die Sophrologie ist im Bereich der Alternativmedizin angesiedelt und ist eine Art individuelle Bewusstseinsschulung, die Körper und Geist aktivieren und das Erlebte integrieren soll. Dann hat er sich bei der Muslimischen Seelsorge Zürich (QuaMS) in Kooperation mit der Universität Fribourg und der Katholischen und Reformierten Kirche Zürich zum muslimischen Seelsorger ausbilden lassen. Seither ist er als Seelsorger in öffentlichen Institutionen tätig, seit vergangenem April in den Bundesasylzentren Altstätten, Kreuzlingen und in Sulgen. Eine prägende und besonders schöne Zeit für Boulahcen sei der Ramadan in der Asylunterkunft im vergangenen Jahr gewesen. «Ein spiritueller Monat», erklärt der 59-Jährige, «in dem man zur Ruhe kommt und den Geist reinigt.» Der Ramadan ist der Fastenmonat der praktizierenden Muslime, wo zwischen Morgendämmerung und Sonnenuntergang auf jede Art von Genuss freiwillig verzichtet werde. So wird, während die Sonne scheint, weder getrunken noch gegessen. «Das Staatssekretariat für Migration hat uns diesbezüglich wirklich gute Rahmenbedingungen geschaffen», freut sich Boulahcen. Am Schluss des Ramadans, beim Fastenbrechen, gibt es wie an Weihnachten Geschenke. «Ich habe für alle Kinder im Asylzentrum Geschenke mitgebracht, unabhängig von ihrer Religion», sagt Boulahcen, der selbst verheiratet und zweifacher Vater ist. «Das Lachen der Kinder ist alles für mich.»Er mag an seiner Tätigkeit als Seelsorger, dass er Teil des Prozesses jedes Einzelnen sein kann, neue Lebensqualität in der Fremde zu finden. So helfe er den Menschen, ihre Last zu tragen.  Wo sind seine Grenzen? «Meine Grenze ist der Um­gang mit psychisch kranken Menschen. Da ist medizinisches Fachpersonal gefragt», sagt Boulahcen. Glücklicherweise sei die Zusammenarbeit der Mitarbeitenden im Asylzen­trum sehr eng. Wenn es für ihn zu viel werde, könne er diese Probleme bei den Supervisionen der muslimischen Seelsorge Zürich aufarbeiten. Jedoch sei es auch Erfahrungssache, sich von den Problemen abzugrenzen, denen er in seiner Arbeit täglich begegne.Manchmal, wenn für Abdelhafid Boulahcen gerade Feierabend ist, trifft er noch jemanden beim Hinausgehen. «Ich kann dann nicht sagen: ‹Entschuldigung, wir sprechen nächste Woche.›» Mit Interrail-Fahrkarte und Rucksack durch EuropaSelbst lebt der gebürtige Ma­rokkaner seit 35 Jahren in der Schweiz. Das erste Mal ist er in den 1980er-Jahren in die Schweiz gekommen. Im Anschluss an das Gymnasium unternahm er eine Reise nach Europa. Damals sei das alles einfach gewesen. «Ich hatte eine Interrail-Fahrkarte und einen Rucksack, dann ging die Reise los», sagt Boulahcen. Er wollte andere Menschen und andere Kulturen kennenlernen. Sein Motto: «Reisen durch Europa, rasten in der Schweiz». Die Schweiz hätte ihm so gut gefallen, die Natur, die Berge. In Casablanca sei alles flach. Einige Jahre später kam er wieder in die Schweiz und liess sich endgültig nieder, jetzt lebt er hier mit seiner Familie. In Casablanca gebe es praktisch nur zwei Jahreszeiten, Winter und Sommer. Er schätzt es, hier die vier Jahreszeiten mitzuerleben. «Das ist wunderschön», sagt er.Er, der Menschen aus anderen Kulturen nun hilft, sich in der Schweiz zu integrieren, hat er selbst Probleme gehabt, als er neu hier war? Ist er Vorurteilen begegnet? Abgesehen von der Sprache hätte er keine Inte­grationsschwierigkeiten gehabt. «Ich bin in Casablanca in einem Quartier aufgewachsen, das kulturell französisch und marokkanisch gemischt war», erklärt er. So war ihm der europäische Lebensstil bereits vertraut. Auch Vorurteilen sei er nicht begegnet. Geholfen hat sicher auch, dass er mit einem freundlichen Gesicht und einer ausgestreckten Hand auf die Leute zugeht.

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