11.05.2021

Hoffen auf den nächsten Schub

Der hundertjährige Heerbrugger Turnverein hat trotz vorteilhafter Eigenheiten eher trübe Aussichten.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Bei der Gründung der Aktivriege am 20. April 1921 «isch ‘s halb Dorf dezuecho», sagt Kassier Niklaus Kehl. Die Industriellen Ernst und Jakob Schmidheiny sowie Heinrich Wild traten als Passivmitglieder bei. Rudolf Marthaler war bei der Vereinsgründung Tagespräsident. (Marthaler war Druckereiunternehmer, Redaktor und Verleger der später im «Rheintaler» aufgegangenen freisinnigen Mittelrheintaler Zeitung «St. Galler Rheinbote».)Als Heinz Christen vor Jahrzehnten ins Rheintal kam und hier dem Turnverein beitrat, half ihm dies, rasch Anschluss zu finden. Obschon der Heerbrugger Turnverein seither an Bedeutung verloren hat, gibt es nach wie vor den gesellschaftlichen Aspekt einer Mitgliedschaft. Präsident Heinz Rohner bestätigt dies, indem er scherzhaft die Feststellung korrigiert, einmal wöchentlich seien Männerriegler am Trainieren. Rohner sagt: «Sind dött».Jede Riege hat ihre eigene KasseKraftspritzen und Motivationsschübe verdankt der Verein in jüngerer Vergangenheit den beiden verstorbenen Rolf Segmüller und Georges Vogt. Mit dem Verlust Segmüllers, dem initiativen technischen Leiter, ist der Elan allgemein etwas geschwunden. Nicht nur Heinz Rohner ist überzeugt: Lebte Rolf Segmüller noch, nähme die Aktivriege noch an Verbandsturnfesten teil. Georges Vogt wiederum hat dem STV zu Strukturen verholfen, die Heinz Christen geradezu schwärmen und Heinz Rohner spasseshalber von einem «Dreisäulenprinzip» sprechen lassen.Statt eines trägen Gebildes und Hauptversammlungen für alle 150 Mitglieder haben die Turnerinnen und Turner seit dem Jahr 2011 ihren STV Heerbrugg quasi als Dachorganisation. Die drei Riegen - Aktive (inkl. Jugendriege), Frauen, Männer - führen je ihre eigene Hauptversammlung durch und sind – mit je eigener Kasse – finanziell weitgehend eigenständig. Wird etwas gebraucht, ist nicht ein Antrag zu stellen, sondern kann das Benötigte selbstständig beschafft werden. So ist zum Beispiel Niklaus Kehl nicht einfach STV-Kassier, sondern zudem Kassier der Männerriege. An der jährlichen Versammlung des STV nehmen Delegierte aus allen Riegen teil.Geschenktes Geld geht gleich wieder wegZu den namhaften Einnahmen gehört neben den Mitgliederbeiträgen die grosszügige Zuwendung der Ortsgemeinde Au-Heerbrugg. Weil die Turnerinnen und Turner für die Benützung der Hallen aber eine Miete in ähnlicher Grössenordnung zu bezahlen haben, verstehen sie sich als «Umverteiler», was sie belustigt erwähnen. Das von der Ortsgemeinde erhaltene Geld liefern sie der Schule wieder ab. Corona zum Trotz, sei der Betrag auch ohne Training fällig, sagt Niklaus Kehl; doch im ersten Lockdown habe der Verein einen Teil der Hallenmiete erlassen bekommen.Für ein grosses Fest fehlen die RessourcenFür ein grosses Jubiläumsfest zum hundertjährigen Bestehen fehlen dem STV Heerbrugg die Ressourcen. Überhaupt hat der Verein seine öffentlich sichtbare Arbeit zwangsläufig abgebaut. Weder wird der Lottomatch noch durchgeführt noch «Dä schnellscht Heerbrüggler» gesucht. Hingegen wird beim Rheintaler OL-Cup mitgeholfen, und die Aktivriege sammelt nach wie vor regelmässig das Altpapier ein.[caption_left: Zum 25- und zum 50-Jahre-Jubiläum erschien je eine Festschrift. Bis Mitte der Siebziger- jahre erlebte der Heerbrugger Turnverein eine eigentliche Blütezeit.]Mit bald 91 noch aktiver FaustballerDie Nachwuchssorgen betreffen wenigstens nicht die Jüngsten, sondern die älteren Turnerinnen und Turner. Die Jugendriege mit ihren rund 70 Mitgliedern sehen die Verantwortlichen als Ausdruck vorzüglicher Jugendarbeit. Hingegen liegt das Durchschnittsalter bei der Männerriege – vorsichtig geschätzt – bei siebzig. Von den immerhin noch etwa vierzig Mitgliedern treffen sich wöchentlich 15 bis 20 zum Turnen. Josef Codoni, mit bald 91 der älteste, war bei der Gründung der Männerriege (1931) bereits auf der Welt und ist immer noch aktiver Faustballer.Der Frauenriege gehören zwei Dutzend Turnerinnen an, gleich viele Mitglieder hat die Aktivriege, deren Zusammensetzung im Rheintal eine Besonderheit ist. Frauen und Männer gehören der gleichen (gemischten) Riege an, was nach Rohners Wissen im Rheintal sonst nirgendwo vorkommt. Nach dem Training geniesst man gemeinsam den Ausgang.Wachsender Ort, schrumpfende RiegenVon den vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der stark gewachsenen Ortschaft Heerbrugg würde der STV «gern einige begrüssen», meint Heinz Christen und sieht als Nachteil (auch anderer örtlicher Vereine), dass Heerbrugg eben kein Dorf sei und angesichts zunehmender Verstädterung die Menschen eher in der Anonymität verschwänden. Von einer «florierenden Männerriege» wie in Au kann der STV Heerbrugg nur träumen. Leichter als klar örtliche Angebote hätten es regional ausgerichtete Vereine wie der Volleyball- oder der Unihockeyclub. Mit Blick auf den relativ hohen Ausländeranteil in Heerbrugg wird folgender Vergleich gezogen: Während Italiener sich einst in schöner Zahl  der Turnerschar angeschlossen hätten, seien junge Menschen mit balkanischen Wurzeln eher dem Fussball zugeneigt.Viel hängt von Einsatzfreudigen abHeinz Rohner sagt, man lebe in der Hoffnung, dass das Interesse am STV wieder steigt, aber die Hoffnung ist nicht mehr die jüngste. Aus der Ferne winkt das Schreckgespenst «Zusammenschluss»; die Fusionsidee bezeichnet aber eine allerletzte Exitstrategie. Niklaus Kehl hat sicher recht, indem er sagt: «Der Fortgang hängt auch von den Leuten ab, die diesen Karren ziehen.»Relativiert wird der gegenwärtige Zustand nicht nur wegen der erstarkten Jugendriege. In der Festschrift zum 25-jährigen Vereinsjubiläum war zu lesen: «Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.» Auch der Blick zurück lässt das heutige Nachwuchsproblem in einem milderen Licht erscheinen. Die Geschichte des Heerbrugger Turnvereins war stets ein Auf und Ab. Es gab eine Blütezeit (bis in die Mitte der Siebzigerjahre) neben herausfordernden Jahren. In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen war Heerbrugg als «das Turnzentrum des Mittelrheintals» bezeichnet, aber 1987 musste die Aktivriege mangels Oberturner pausieren und gelang es nicht, einen vollständigen Vorstand zu bilden. Die Ämter waren in Doppelfunktion zu besetzen. Präsident Heinz Rohner war schon damals einsatzfreudig und betätigte sich als Aktuar und als Kassier. Ehrenmitglied Heinz Christen war genauso unermüdlich, als Oberturner während 18 Jahren, Vorstandsmitglied und für kurze Zeit als Präsident.«Renaissance» in diesem JahrtausendIn einem Leporello, das zum 90-jährigen Bestehen des Vereins erschien, ist die Vereinsgeschichte in drei Phasen gegliedert. Der Gründungszeit (1921 Turnverein, 1922 Knabenriege, 1925 Damenriege, 1931 Männerriege, 1953 Frauenriege, 1956 Mädchenriege) folgten «schwierige Zeiten» mit der Integration der Aktivriege in die Männerriege (1993), der Fusion von Damen- und Frauenriege (1995) sowie die Integration der Knabenriege in die Mädchenriege (1998).Was dann folgte, ist unter dem Titel «Renaissance» zusammengefasst und begründet die anhaltende Hoffnung auf neuen Schub. Nach der Bildung einer Teenie-Riege (2008) sowie der Reaktivierung der Aktivriege (2010) wurde 2011 für alle Riegen die Dachorganisation gegründet, unter der die Turnerinnen und Turner seither vereint sind: der heutige STV Heerbrugg. 

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