19.07.2021

Hochwasser macht erfinderisch

Lange sind die Menschen der Ostschweiz den Überschwemmungen ausgeliefert. Dann entdecken sie die Vorzüge der Zusammenarbeit.

Von Rolf App
aktualisiert am 03.11.2022
So richtig schlimm ist es nicht geworden mit dem Hochwasser, diesmal zumindest nicht, und nicht bei uns. Der Romanshorner Pegel des Bodensees verzeichnet eine Wasserhöhe von 397,0 Metern über Meer, jener in Konstanz liegt auf 4,79 Metern über der dort festgelegten Pegelnull. Da hat es zu anderen Zeiten ganz anders ausgesehen. Auf 5,65 Metern stand das Wasser in Konstanz am 24. Mai 1999, als die Ostschweiz das letzte Mal die verheerenden Kräfte des Wassers zu spüren bekam. Die Marke von 5,38 erreichte der Wasserstand am 28. Juli 1987, 5,55 am 26. Juni 1926, und sogar 6,36 Meter am 7. Juli 1817.Von einem anderen verheerenden Hochwasser-Ereignis erzählt das nebenstehende Bild aus dem Jahr 1890. Gruppen von Menschen posieren in Booten vor dem Lustenauer Gasthof Zum Engel; mit vereinten Kräften haben sie gegen jene Flut gekämpft, die im September jenes Jahres einen Damm auf 300 Metern haben brechen lassen. «Nicht nur das Rheintal, auch grosse Teile von Vorarlberg wurden von Überschwemmungen und Erdrutschen schwer geschädigt», schreibt der Historiker Tobias Engelsing in seinem Buch «Der gefährliche See», der Begleitpublikation zu einer Ausstellung am Konstanzer Rosgartenmuseum.«Ein grausiger Anblick bietet sich den Augen der Besucher dar», beschreibt die «Konstanzer Zeitung» die Katastrophe. «Überall barfuss durchs feuchte Element watende Menschen, Gruppen von Leuten, die trüben Blicks auf das Zerstörungswerk schauen. Das ganze Rheintal bildet augenblicklich das Bett des Rheins.» Die Katastrophe zieht Neugierige an, Engelsing konstatiert «Anfänge des heute verbreiteten Katastrophentourismus».Die Not erst macht die Kartoffel attraktivKlimatische Veränderungen haben seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bis etwa 1860 verstärkt zu Hochwassern geführt. Europa wird in dieser «Kleinen Eiszeit» immer wieder von arktischen Luftmassen überflutet, auf kalte und trockene Winter folgen regenreiche Frühjahrsperioden. Die Schneeschmelze fällt oft zusammen mit ausgiebigen Regenperioden. Und weil der Rhein noch gänzlich unreguliert ist, fliesst dort im Juli 1762 so viel Wasser zusammen, dass der Appenzeller Pfarrer Gabriel Walser Menschen beobachtet, die auf die Dächer und Bäume geflüchtet sind «und erbärmlich um Hülfe schryen». Ihre Ernte ist zerstört, deshalb folgt jetzt eine Hungersnot, die immerhin den Beginn des Kartoffelanbaus markiert. Gegen die von aufgeklärten Geistern schon einige Zeit propagierte «Krummbire» haben die Bauern bisher grosse Vorbehalte gehegt.Es ist dies ein kleines Beispiel jener Lernprozesse, die Überschwemmungen auslösen können. Am Anfang allerdings steht oft der Konflikt oder das Versagen. Als sich nach verheerenden Überschwemmungen im August 1770 die Krise wiederholt und Brotgetreide unerschwinglich teuer wird, schwärmen Schweizer Abgesandte und Händler aus in die Nachbarschaft – und bekommen die Türe vor der Nase zugeschlagen. Die österreichische Regierung beschliesst, dass jeder Ort für sich selber sorgen soll. Auf dem See patrouillieren Schiffe, um jeden Handel zu unterbinden, Bergpässe und Handelswege werden mit Wachen besetzt. Nur Oberitalien liefert noch, und Fürstabt Beda Angehrn organisiert eine 460 Mann zählende Transportkolonne.Das Prinzip Eigennutz regiert noch lange. Dann aber bahnt sich ein Wandel an. Aus zwei Gründen. Zum einen verbreitet sich an der Wende zum 19. Jahrhundert Schritt um Schritt die Auffassung, dass Hochwasser nicht Strafen Gottes sind – oder, noch schlimmer, das Werk von Hexen –, sondern Naturkatastrophen, gegen die man auch etwas unternehmen kann. Zum andern aber rütteln die Krisenjahre 1816 und 1817 die Menschen auf. Im fernen Indonesien ist der Vulkan Tambora ausgebrochen, seine riesige Aschewolke breitet sich rund um den Globus aus, trübt den Sonneneinfall und führt zu einer Abkühlung. An 122 Tagen regnet es über den Bodensee, 35 Tage lang fällt Schnee. Das Wasser steigt, die Ernte fällt aus, der Hunger grassiert ebenso wie der von Läusen übertragene Flecktyphus. «Diese Unglücklichen bekamen ein aufgedunsenes, blasses Aussehen, magerten ab, verloren ihre Kräfte», berichtet der Statthalter von Bischofszell. Im Frühjahr 1817 ziehen rund 30 000 Hungerleider kreuz und quer durch die Ostschweiz, in Trogen werden noch drei Hinrichtungen wegen Diebstahls und Bettelei vollzogen.Das ist die eine, die harte Seite. Die Thurgauer Regierung weigert sich, Zuschüsse zu den örtlichen Armenfonds zu leisten, doch zeigen sich reiche Familien und sogar der russische Zar grosszügig, letzterer aus Anhänglichkeit an die schöne Schweiz. Doch auf der andern Seite ist ein Umdenken im Gang, technisch, politisch, gesellschaftlich. 1807 veröffentlicht der Zürcher Staatsmann Hans Conrad Escher einen bewegenden «Aufruf an die schweizerische Nation», er will die Linth in den Walensee leiten und so die verheerenden Überschwemmungen der Linthebene beseitigen. Finanzieren will er das Ganze über Aktien, das Echo ist überwältigend.Die Rheinkorrektion wird nationale AufgabeDie Linthkorrektion wird zum Schrittmacher für die Bestrebungen, in einer grossen Anstrengung das Flussbett des Rheins zu verengen, es mit Hochwasserdämmen zu schützen und mit zwei Durchstichen das Gefälle des Flusses zu erhöhen. Und zwar unter der Leitung des Kantons und nicht mehr der Gemeinden, deren Flussverbauungen allzu oft von Hochwassern hinweggespült worden sind. Dass es in der Mitte des Jahrhunderts immer wieder zu Überschwemmungen kommt, erhöht den Druck zuerst auf die St. Galler Regierung, dann auch auf den Bund, der 1853 die Rheinkorrektion als nationale Aufgabe anerkennt.Dafür gewonnen werden muss allerdings noch Vorarlberg. Kompromisse sind fällig, aber sie brauchen Zeit. Zuerst, 1868, tragen verheerende Überschwemmungen im zentralen Alpenraum und im Rheintal dazu bei, dass St. Gallen in der Durchstichfrage nachgibt. Dann, 1890, machen die brechenden Vorarlberger Dämme, von denen bereits die Rede war, den Nachbarn klar, wie dringlich die Angelegenheit ist.Der Rhein ist damit ein Stück weit gebändigt, jetzt blüht von privater wie von amtlicher Seite die technische Fantasie auf. Sie entzündet sich an der Frage, wie es gelingen könnte, den Abfluss des Wassers aus dem See zu beschleunigen, ihn also wie andere Schweizer Seen zu regulieren. Pläne werden gewälzt, angefangen mit dem Vorhaben, den Rhein auszubaggern und bei Schaffhausen gewaltige Flussschleusen zu errichten, über einen Entlastungsstollen unter dem Rheinfall bis zum Grossprojekt, den Rhein bis zur Nordsee schiffbar zu machen und den Bodenseeraum einer massiven Industrialisierung zu öffnen, mit Chemiewerken, einem gigantischen Industriehafen und einem internationalen Grossflughafen. «Schon steht in greifbarer Zukunft der Weg zum Meere offen», verspricht 1912 eine Denkschrift, «bald werden die langen Rauchfahnen der Schleppzüge mit zum Bilde des Bodensees gehören.»[caption_left: Schäden des Hochwassers im Rheintal, 1927. Bild: Gemeindearchiv Hard]Dazu allerdings wird es nicht kommen. 1973 entscheidet das für die Belange der Umwelt sensibilisierte Thurgauer Stimmvolk: Es dürfen an Bodensee und Rhein weder Schleusen noch Kraftwerke noch Frachthäfen gebaut werden.HinweisTobias Engelsing: Der gefährliche See. Wetterextreme und Unglücksfälle an Bodensee und Alpenrhein, Südverlag Konstanz 2019

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