01.09.2022

Gravag-Chef: «Wir geben enorme Summen aus»

Bald bekommt die Gaskundschaft die Akontorechnung fürs nächste Jahr. Gravag-Geschäftsführer Roger Schneider sagt, auffallend viele Kunden teilten dem Unternehmen mit, dass sie die Temperatur nun zurückdrehen.

Von Interview: Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Womit haben private Gasbezügerinnen und -bezüger schlimmstenfalls zu rechnen? Wovon wird der Energieversorger Gravag in zehn Jahren leben? Woher kommt unser Gas? Der Gravag-Chef liefert die Antworten.Wird mich beim Empfang der Gasjahresrechnung im Herbst der Schlag treffen?Roger Schneider: Nein. Die Preise sind zwar kontinuierlich gestiegen, bleiben aber auf dem aktuellen Niveau bis Ende September stabil. Dank einer zusätzlichen Akontozahlung im Mai gehe ich von keiner hohen Nachbelastung bei der Schlussrechnung für das zurückliegende Rechnungsjahr aus. Eine Frage ist allerdings, wie Stockwerkeigentümer vorgehen, ob auch sie ihren Mieterinnen und Mietern vorausschauend mehr verrechnet haben, um die finanzielle Belastung im Herbst etwas zu dämpfen.Wie steht es mit der neuen Akontorechnung fürs nächste Jahr? Diese basiert auf einem durchschnittlichen Verbrauch und auf den ab 1. Oktober 2022 nochmals höheren, noch nicht genau feststehenden Preisen.Angenommen, im Abrechnungsjahr 2021/22 hat ein Privatkunde 2500 Franken bezahlt; mit welcher Summe hat er für das nächste Jahr zu rechnen? Der Rechnungsbetrag für die Vorauszahlung dürfte sich auf rund 4000 Franken zubewegen.Tendenz weiter steigend? Nicht unbedingt, es ist jedoch nicht völlig auszuschliessen. Im aktuellen Gasmarkt ist schon viel Pessimismus eingepreist – ein kurzfristiges weiteres enormes Verschärfungspotenzial sehe ich im Moment nicht. Eine Rolle spielt aber natürlich auch der Winterverlauf; vielleicht fällt er ja mild aus. Und die Gravag hat soeben die Internetseite sparen.gravag.ch aufgeschaltet, die darüber Auskunft gibt, wie sich merklich Gas sparen lässt. Wer zum Beispiel die Temperatur um 1 Grad senkt, braucht 6 Prozent weniger Gas. Bei 2 Grad sind es 12 Prozent und so weiter.Woher kommt unser Gas? Vor allem aus Deutschland, aber auch aus Frankreich. Der deutsche Markt wird wiederum versorgt mit Gas aus Norwegen und Holland, ausserdem mit LNG-Flüssiggas aus der ganzen Welt. Der Anteil aus Russland ist aufgrund der Liefereinschränkung deutlich kleiner geworden.Eine Empfehlung lautet: Wer aus russischem Gas aussteigen will, sollte die Gasheizung ersetzen und auf erneuerbare Heizungslösungen umsteigen. Raten Sie das auch? Wegen des russischen Gases muss man nicht unbedingt weg vom Gas. Europa arbeitet mit Hochdruck daran, die Ausfälle aus Russland möglichst rasch durch anderes Gas zu kompensieren. Innerhalb von zwei, drei Jahren sollte dies möglich sein.Das klingt, als würden spätestens dann die Preise wieder deutlich sinken. Ich glaube, das alte Preisniveau, das jahrelang Bestand hatte, wird sich längere Zeit nicht mehr erreichen lassen, aber ja, die Preise dürften auch wieder sinken. Weil in Zukunft LNG-Flüssiggas an Bedeutung gewinnt, wird die europäische Gasbeschaffung nicht mehr so günstig sein wie das wirklich sehr günstige russische Gas. LNG setzt eine Infrastruktur voraus, die mit entsprechenden Kosten verbunden ist und über den Schiffstransport im internationalen Wettbewerb zum Beispiel mit Asien steht.Ist die Gravag wegen der Möglichkeit eines Versorgungsengpasses von einer staatlichen Stelle kontaktiert worden? Ja, die Krisenstäbe der Kantone Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden haben den Kontakt gesucht, um die Nähe zum Versorger, also zur Gravag, sicherzustellen.Haben Sie wegen der gegenwärtigen Situation irgendwelche staatlichen Vorgaben zu befürchten? Derzeit kann die Gas-Wirtschaft in der Schweiz die Versorgungsaufgaben vollumfänglich selbst wahrnehmen. Der Staat wird eingreifen, wenn eine Mangellage droht. Sollte man erkennen, dass die Schweiz mit dem verfügbaren Gas nicht ohne Verbrauchsreduktionen durch den Winter kommt, würde bestimmt reagiert.Womit muss ich als privater Gasbezüger im schlimmsten Fall rechnen? Falls freiwilliges Sparen zu wenig fruchtet, wäre bei einer Verschärfung der Situation mit angeordneten Einschränkungen zu rechnen. Im gleichen Atemzug käme es wohl auch zu Stromengpässen, was einen Ausfall sämtlicher Heizungen mit einer elektrischen Steuerung bedeuten würde.Hatten Sie Anfragen besorgter Industrie-Kunden? Ja. Wo immer Produktionsprozesse betroffen sind, besteht eine gewisse Sorge. Die Beratungstätigkeit hat stark zugenommen, und wir haben festgestellt: Die Energieversorgung ist vielerorts zur Chefsache geworden.Private melden sich sicher ebenfalls wegen der deutlich gestiegenen Preise. Ja, auffallend viele Kunden teilen uns mit, dass sie die Temperatur nun zurückdrehen und bemüht sind, Gas zu sparen. Sie tun dies in der Absicht, eine tiefere Rechnung für 2022/23 zu erhalten.Kommt die Gravag dem Begehren nach und setzt den Akontobetrag tiefer an? Ja, wobei zu sagen ist: Für uns ist die Liquidität derzeit besonders wichtig. Weil der Gasbeschaffungspreis sich gegenüber dem langjährigen Durchschnittspreis mehr als verzehnfacht hat, müssen wir enorme Summen aufwenden, um die monatlichen Gaseinkäufe fristgerecht zu bezahlen. Stets die nötige Liquidität bereitzustellen, ist gegenwärtig eine der grössten Herausforderungen.Ich nehme an, die Gravag wird sich angesichts der jüngsten Entwicklung verstärkt nach neuen Geschäftsfeldern umsehen müssen. Unsere vor drei Jahren eingeschlagene Strategie zur Mitgestaltung der Energiewende in unserer Region ist unabhängig von den Ereignissen der jüngsten Zeit. In Widnau besteht daher seit zwei Jahren die Gravag Thermo, unser Kompetenzzentrum für innovative und vernünftige Energielösungen. In diesem Gravag-Bereich sind acht Mitarbeitende tätig. Das Beratungsangebot ist derzeit sehr gefragt.Muss der Energieversorger Gravag sich nicht neu erfinden? Beziehungsweise: Wovon wird die Gravag in zehn Jahren leben? In zehn Jahren wohl immer noch zu einem Teil vom Gasgeschäft, obschon die Zahl der Kundin-nen und Kunden in diesem Geschäftsfeld wohl abnehmen wird. Unsere Netze werden weiterhin eine wichtige Funktion in der Bereitstellung der nötigen Energie zum richtigen Zeitpunkt bzw. zu Spitzenzeiten haben. Daneben wollen wir unsere Leistungen und Angebote der Gravag Thermo ausbauen und zum Wunschpartner in der Gebäudetechnik werden.

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