20.08.2021

Geschichte, Wind und Calvados

Von Andrea C. Plüss
aktualisiert am 03.11.2022
Wie merkt man, dass man von etwas begeistert ist? Stellt sich da plötzlich ein gutes Gefühl ein, das den Namen «Begeisterung» verdient? Bin ich glücklich, wenn mich etwas begeistert, fasziniert, beeindruckt oder gar euphorisch? Meine Begeisterung für die Normandie, diese weite, felsig-schroffe und ebenso malerische Region an der französischen Atlantikküste, entwickelte sich während meines ersten Besuches im Jahr 2013. Mit jedem Tag, den ich dort in den letzten Jahren verbrachte, ein Stückchen mehr. Gewichen ist sie bis heute nicht. Historische Schauplätze in Augenschein nehmenWas diese Begeisterung genau ausmacht? Am heimischen Schreibtisch sitzend, versuche ich mich an einer Erklärung. Die Küste der Normandie zieht sich über etwa 650 km von Le Tréport im Norden, über das mondäne Strandbad Deauville bis nach Cherbourg, am äussersten Küstenzipfel im Westen liegend, und weiter dem Küstenverlauf folgend bis zum Mont-Saint-Michel, an der Grenze zur Bretagne. Mich interessierten von Beginn an die Landungsstrände: Sword, Juno, Gold, Omaha und Utah. Ich wollte mir ein Bild machen von dem Küstenabschnitt der Normandie, an dem am 6. Juni 1944, am Tag der Entscheidung, dem «D-Day», 150000 alliierte Soldaten an Land stürmten, um das Dritte Reich, die Hitler-Diktatur, endgültig in die Knie zu zwingen und den Zweiten Weltkrieg in Europa zu beenden. An einem Regentag erreichten wir Ende Mai 2013 den kleinen Ort Port-en-Bessin-Huppain, der Wind blies garstig. In der Lobby unseres Hotels ging es international zu. Eine Gruppe Japaner beugte sich über eine Landkarte, zwei amerikanische Paare prosteten sich mit Calvados zu und sprachen über ihre Pläne für den nächsten Tag. Angekommen. Geschichte muss nicht erdrückenDie Namen der Küstenabschnitte, an denen sich die Alliierten 1944 ans Ufer kämpften, werden bis heute in der Region verwendet. Hinweisschilder weisen den Weg zum «Plage d’Omaha Beach», dem Strand der Gemeinde Saint-Laurent-sur-Mer, oder zum Mercure Hotel Omaha Beach. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig. Ich empfinde es jedoch nicht als Rückwärtsgewandtheit. Meine Ferien finden im Jetzt statt. Dazu gehört für mich: entspannt in jeden Ferientag starten, sich draussen bewegen, die Region erkunden und mit Menschen ins Gespräch kommen. In der Normandie gelingt mir das, wenn nicht zu 100 Prozent (das wäre wohl etwas vermessen) so doch zu einem hohen Prozentsatz. Ich stemme mich gern dem Wind entgegen auf den schmalen Uferwegen bei Arromanches-les-Bains. Noch lieber lasse ich den Blick übers Meer schweifen und ja, manchmal versuche ich, mir vorzustellen, wie es für die Soldaten gewesen sein muss, damals. Überreste der Befreiungsschlacht, so etwa klobig-grosse tangbesetzte Teile der mobilen Landungsbrücken, erinnern noch heute an das Gestern. Wären die verrotteten Zeitzeugen plötzlich verschwunden, es täte meiner Begeisterung für die Region keinen Abbruch. Das Bewusstsein, sich an einem geschichtsträchtigen Ort zu befinden, bliebe ohnedies erhalten. Nun habe ich in der Normandie aber nicht das Gefühl, mit wackeligen Knien dazustehen, weil die Geschichte, beziehungsweise die Erinnerungen an historische Ereignisse schwer auf meinen Schultern lasten. Als Last empfinde ich die Auseinandersetzung mit historischen Themen sowieso nicht, erst recht nicht in den Ferien. Vor Jahren habe ich das Fach Neuere Geschichte studiert, eben weil mich Geschichte interessiert. In einen Tag Normandie passt bei mir ein Sowohl-als-auch. Das kann die Fahrt zum angeblich besten Calvados-Händler im Hinterland sein und auf dem Rückweg die Besichtigung der Kathedrale von Bayeux. Es kann ein Strandspaziergang sein, der unterhalb des amerikanischen Soldatenfriedhofs in Colleville-sur-Mer endet. Ich schätze Sowohl-als-auch- Optionen. Und mindestens so sehr die Option, alles ganz anders zu machen, zumindest beim nächsten Mal. Wer einmal an einem Schlechtwettertag meinte, die Besichtigung des Wandteppichs von Bayeux sei genau dann eine gute Option, weiss es danach sicherlich besser. Sich im Regen langsam in der Warteschlange nach vorn zu schieben, ist wenig befriedigend. Obschon es die bemerkenswert gut erhaltene Stickarbeit aus dem 11. Jahrhundert mit einer sagenhaften Länge von 70 Metern verdient, gesehen zu werden, wie ich später feststellte. Schliesslich gibt sie motivisch wieder, wie der Herzog der Normandie 1066 zur Vereinnahmung Englands ansetzte. Sein Name: Wilhelm der Eroberer.Um über das am Tag Erlebte zu sprechen, Gedanken zu spinnen und manchmal sogar die Welt ein Stück neu zu erfinden, braucht es den entsprechenden Rahmen. Sich nach einem guten Essen umzuschauen, ist da nicht die schlechteste Idee. In Port-en Bessin-Huppain gehen wir dafür wenige Meter am engen Hafenbecken entlang, dann über die Brücke und sitzen kurz darauf im «La Marine». Ich bin dann nicht unbedingt euphorisch oder fasziniert, um zur Anfangsfrage zurückzukehren. Aber oft begeistert. Von einer Region in ihrer Vielfältigkeit. Mir tut es gut, dort zu sein. (Fairerweise sei an dieser Stelle erwähnt, dass ich die Landessprache so weit beherrsche, dass Missverständnisse zwar nicht ausgeschlossen, aber eher selten sind.) «Deux Calvados, s.v.p.», geht mir an der«Calvados-Küste», wie die Normandie auch genannt wird, leicht über die Lippen. Bleibt einzig anzufügen: A la prochaine! Auf ein nächstes Mal – hoffentlich bald.Andrea C. Plüss

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