Samuel steht seit sechs Uhr auf dem Marktplatz, wie jeden Tag. Hier ist der inoffizielle Treffpunkt der Taglöhner. Viele andere stehen dort und hoffen, dass sie jemand anheuert. Die Sorge und der Druck steigen mit jeder Stunde. Samuel denkt an seine Frau und seine Kinder zu Hause. Nur einen Denar, das reicht für heute. Und so ein Glück, da vorn kommt ein Gutsbesitzer. Den hat er hier noch nie gesehen. Er wählt einige aus, zu wenige. Samuel ist nicht darunter. Er hört noch, wie der Gutsherr den Lohn mit den anderen abmacht: Einen Denar! Die Glücklichen gehen in den Weinberg davon. Samuel gibt nicht auf. «Ich bleibe hier», sagt er sich, «was soll ich sonst machen.» Gegen neun Uhr tut sich wieder etwas. Der Gutsherr kommt zurück! Und diesmal ist Samuel dabei. «Geht auch ihr in den Weinberg», sagt er zu einigen, «ich will euch geben, was recht ist.» Das ist keine klare Aussage wie in der Frühe. Und überhaupt, was ist das für ein Unternehmer, für ein Arbeitgeber? Hat der keinen Mitarbeiter, der fürs Personal zuständig ist? Egal, Samuel geht mit. Tüchtig schuftet er mit den anderen im Weinberg. Um zwölf Uhr merkt Samuel, dass noch weitere Kollegen vom Marktplatz kommen. Das scheint ihm merkwürdig. Samuel wundert gar nichts mehr, als um drei Uhr auch noch Leute dazukommen. Aber um sechs Uhr, kurz vor Feierabend, tauchen immer noch mehr auf. Das lohnt doch die Mühe nicht, die Männer noch einzuarbeiten. Verdienen können sie heute eigentlich nichts mehr, lächerlich. Dann kommt endlich die Lohnauszahlung. Jemand drückt allen, ohne Ausnahme, einen Denar in die Hand. Ungläubiges Staunen, ein irritierter Blick, das muss ein Irrtum sein. «Nein, das stimmt so. Alles hat seine Richtigkeit.»Ein Denar, ein Tag Leben – geschenkt. Ein Denar, ein Tag Leben – in die leeren Hände gelegt. Die zuletzt kamen, sind zutiefst dankbar. Die seit der ersten Stunde arbeiten, reklamieren. «Das muss ein Irrtum sein, das ist unfair. Wir müssen mehr bekommen, wir haben mehr verdient, eine unmögliche Gleichmacherei. Wo kommen wir hin, wenn Leistung sich nicht mehr lohnt?» Der Weinbergbesitzer lässt sie abblitzen: «Ich tue euch kein Unrecht. Ihr habt das erhalten, was ihr mit mir vereinbart habt. Seid ihr etwa neidisch, weil ich gütig bin?»Einige gehen gekränkt, fassungslos ob der Ungerechtigkeit der Welt und mit einem Denar, der ihnen nichts mehr wert scheint, nach Hause. Samuel aber merkt, wie die Güte des Weinbergbesitzers auch sein Herz erreicht. Er wird nicht ärmer, wenn alle anderen zu ihrem Recht kommen. «An diesem Tag ist ein Stück Himmel auf der Erde aufgeleuchtet,» denkt er, und geht beschenkt zu seiner Familie.Manuela SchäferPfarrerin in Berneck