Der Verein hatte dem OK einen Auftritt angeboten. Einen Stand wollte er nicht betreiben, sondern bloss ein Ständchen geben. Deshalb sah der Musikverein keinen Grund, die von allen Teilnehmern geforderte Gebühr von 70 Franken zu entrichten. Die Organisatoren hingegen beriefen sich aufs Prinzip. Sie wollten alle gleich behandeln.Der Musikverein hat unserer Redaktion am Montag einen kurzen Text zugestellt, mit dem er der Öffentlichkeit den Verzicht auf einen Auftritt an den Sterntagen wegen «unterschiedlicher Vorstellungen» punkto Teilnahmebedingungen mitteilen wollte. Die wenigen Zeilen sind geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen, obschon der «Konflikt» nicht besonders spektakulär ist. Wie so oft im Leben standen sich zwei Sichtweisen gegenüber, und der Musikverein als eine der beiden Parteien hat entschieden, angesichts der Teilnahmebedingungen am diesjährigen Sterntag keine Platzkonzerte zu geben.Speziell ist die Angelegenheit, weil es sich bei den Parteien um den Musikverein und das einheimische Gewerbe handelt. Sozusagen um gute Freunde. Der Musikverein und das Gewerbe sind einander wohlgesinnt, unterstützen sich gegenseitig – und dies seit Jahrzehnten. Das Gewerbe spendet Beiträge, die Musikanten bereichern das kulturelle Leben im Dorf, wie sie auch die Sterntage hatten bereichern wollen. Sie hätten Zeit und gute Laune geschenkt und wollten dafür nicht noch eine Gebühr entrichten.Angesichts der traditionell engen Beziehung zwischen Gewerbe (bzw. Sterntag-OK) und dem Musikverein liegt der Gedanke nahe, eine Meinungsverschiedenheit wie die beschriebene lasse sich in Sekundenschnelle beseitigen. Doch manchmal sind es gerade die scheinbaren Nichtigkeiten, die einen gedanklich gefangen halten. In diesem Fall steht vordergründig eine Lappalie wie 70 Franken im Weg. Aber es geht eben nicht ums Geld. Vielmehr geht es darum, dass die Pflicht zur Bezahlung der allgemeinen Teilnahmegebühr sich als mangelnde Wertschätzung empfinden lässt. Auftritt ohne Gage: Aber sicher! Auftritt nur gegen Bezahlung einer Gebühr? Sicher nicht.Anderseits war das Gewerbe (bzw. das Sterntag-OK, das Ausnahmen strikt ausschliessen wollte) der Meinung, auf 70 Franken mit gutem Gewissen bestehen zu können. Denn dieser Betrag ist tatsächlich ein Klacks – gemessen an den Geldern, mit denen Gewerbetreibende den Verein seit jeher unterstützen. Doch unbestrittener Grosszügigkeit des Gewerbes zum Trotz: Der Kopf sträubt sich gegen die Vorstellung, dass ein Verein, wenn er auftritt, dafür etwas bezahlen soll. Dass hier der Wurm drinsteckt, haben natürlich auch der Verein und das OK gemerkt. Man hat sich deshalb, an schlechter Stimmung desinteressiert, unterhalten und die alte Freundschaft eher zu festigen als zu schwächen versucht. Die wiedergefundene Eintracht wird mit einer neuen Mitteilung des Musikvereins zum Ausdruck gebracht, die nicht mehr von unterschiedlichen Vorstellungen spricht. Nun heisst es kurz und bündig, völlig sachbezogen: «Der Musikverein Rheineck wird am diesjährigen Sterntag keine Platzkonzerte präsentieren.»Der Öffentlichkeit wird aber schon bald eine andere Freude bereitet, denn wie es heisst, «freuen sich die Musikanten, die Rheinecker Bevölkerung während den Adventswochen mit weihnachtlichen Klängen durch die Adventsbläser verwöhnen zu dürfen».Blicken wir zum Schluss (nicht, weil es sich aufdrängt, sondern der schönen Geschichte wegen und weil es hoffentlich Spass macht) weit zurück ins antike Griechenland:Als Euathlos von Protagoras zum Anwalt auszubilden ist, erklärt Protagoras sich bereit, seinem Schüler die Ausbildungskosten so lange zu erlassen, bis dieser seinen ersten Prozess gewinnt. Dummerweise beendet Euathlos seine Anwaltsausbildung aber nicht, weil er Musiker werden will.Es kommt zum Prozess. Aus der Sicht von Protagoras muss Euathlos seine Schulden begleichen, falls er den Prozess verliert. Euathlos hingegen vertritt folgenden Standpunkt: Gewinnt er die Gerichtsverhandlung, muss er als Gewinner nichts bezahlen. Verliert er jedoch, muss er – gemäss der Vereinbarung mit seinem Meister – ebenfalls nichts bezahlen. Denn hatte Protagoras sich nicht bereit erklärt, seinem Schüler die Kosten so lange zu erlassen, bis dieser den ersten Prozess gewinnt?So verzwickt sind die Verhältnisse in Rheineck zum Glück nicht.Gert Bruderer