03.08.2022

«Für manche waren wir ein rotes Tuch»

Jolanda Spirig und Antonia Federer-Aepli haben sich jahrzehntelang für Frauenanliegen eingesetzt. Vor der bevorstehenden Auflösung des Frauenforums Rheintal ziehen sie Bilanz.

Von Interview: Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Was wurde erreicht? Blieben Hoffnungen unerfüllt? Was wird von der Politik erwartet? Warum fehlt dem Frauenforum der Nachwuchs? Das derzeitige Kernteammitglied Antonia Federer (Berneck) und das frühere Kernteammitglied Jolanda Spirig (Marbach) beantworten die Fragen im grossen Abschiedsinterview. Fühlen Sie sich als Frau 2022 benachteiligt oder gar herabgewürdigt?Jolanda Spirig: Ich fühle etwas anderes: In langen Kämpfen errungene Rechte können immer wieder zur Debatte stehen.So, wie auch die Demokratie kein garantiertes Recht darstellt, sondern ständigen Einsatz erfordert?Antonia Federer-Aepli: Ja, auch mit den Menschenrechten ist es so.Jolanda Spirig: Und mit der Selbstbestimmung. Gerade haben wir mit Blick auf die USA miterleben müssen, wie wichtige Errungenschaften plötzlich zunichte gemacht werden.Antonia Federer: Dass dort kein verfassungsmässiges Recht auf Schwangerschaftsabbruch mehr besteht, ist ein Skandal. Andernorts sehen wir immer wieder: Sobald ein Diktator an die Macht gelangt, werden Frauen zum Thema, selbst die Kleidung.Aber in der Schweiz?Jolanda Spirig: Frauenhass hat weltweit zugenommen. Bei präg­nanten Äusserungen zugunsten von Frauenanliegen ist mit einem Shitstorm in den sozialen Medien zu rechnen, auch bei uns.Können Sie ein Beispiel nennen?Jolanda Spirig: Denken Sie nur an Jolanda Spiess-Hegglin. Unfassbar, was die ehemalige Schweizer Politikerin erleben musste.Antonia Federer: Als ich vor 25 Jahren für den Nationalrat kandidierte, machte sich eine Bernecker Schnitzelbank über mich lustig. Jemand hat sich später entschuldigt.Das Frauenforum schrieb, es verabschiede sich nicht, weil es nichts mehr zu tun gebe. Welches wäre die vordringliche Aufgabe, würde es fortbestehen?Jolanda Spirig: Die Vernetzung und das Sichtbarmachen der Frauen.Antonia Federer: Die Behandlung gesellschaftspolitischer Themen.Es wäre also die bisherige Arbeit fortzuführen.Jolanda Spirig: Tatsächlich geht es um Daueraufgaben – auch jene, Frauen in die Politik zu bringen.Antonia Federer: Bei den letzten Kantonsratswahlen hat das Frauenforum das einzige überparteiliche Podium veranstaltet.Und sonst? Welche konkreten Forderungen bleiben zurück?Jolanda Spirig: Keine Forderung, sondern die Hoffnung, dass Frauen der nächsten oder übernächsten Generation wieder etwas aufziehen, das gesellschaftspolitischen und kultu­rellen Fragen Gewicht beimisst. Auch der gegenseitige Austausch ist wichtig.Antonia Federer: Zum Beispiel können Teilzeit arbeitende Frauen noch immer kein Pensionskassenguthaben aufbauen.Besteht mit Blick auf das Rheintal besonderer Nachholbedarf?Antonia Federer: Ja, zum Beispiel bei der Kinderbetreuung. Meine Tochter in Zürich hat in Fussdistanz fünf Kitas. Kinder aus Lüchingen müssen nach Altstätten in die Kita. Ausserdem ist in Zürich die flächendeckende Einführung von Tagesschulen geplant.Jolanda Spirig: Von den traditionellen Parteien wäre zu erwarten, dass sie mehr gut verankerte, vernetzte Frauen auf ihre Wahllisten setzen.Tun sie das nicht immer wieder?Jolanda Spirig: In aller Regel fehlt der Rückhalt. Nach einer Niederlage fühlen sich Kandi­datinnen entsprechend allein gelassen. Sie denken vielleicht: Das tue ich mir kein zweites Mal an. Die Aufgabe der Parteien wäre es doch, jemanden aufzubauen, auch einen zweiten, vielleicht dritten Anlauf in Kauf zu nehmen. Wo aber ein Vorstand ganz oder beinahe aus Männern besteht, fühlt sich eine Kandidatin nicht wirklich heimisch.Antonia Federer: Die Vertretung in der Politik sollte ein Abbild der Gesellschaft sein. Nehmen wir Widnau, wo eine Findungskommission nur Männer zur Wahl fürs Gemeindepräsidium vorschlug. Dabei ist doch schon im Begriff Findungskommission der Anspruch des Findens enthalten. Ich jedenfalls hätte auch eine geeignete Kandidatin erwartet.Ist nicht vorstellbar, dass selbst intensives Suchen erfolglos bleibt?Antonia Federer: Wird irgendein Sitz auf Gemeindeebene frei, ist es doch so: Man ist grundsätzlich froh, ihn besetzen zu können – und nimmt, überspitzt gesagt, «den Erstbesten». Es geht jedoch darum, lange vor einer Wahl Beziehungen zu pflegen, auch auf Frauen zuzugehen, es geht um Klinkenputzen und Knochenarbeit.Jolanda Spirig: Wobei natürlich Frauen wünschbar sind, die nicht liberale Kahlschlagwerte vertreten, sondern Frauen, die mit offenem Geist ganzheitlich denken und sich nicht scheuen, hinzustehen und für etwas einzutreten.Antonia Federer: Ist eine Frau gewählt, gehört dazu, dass sie nicht, wie es häufig geschieht, mit Familienthemen, Sozialem oder Gesundheitsthemen betraut bzw. abgespeist wird.Im urbanen Raum gehört es zum guten Ton, sich zum Feminismus zu bekennen. Ich gestatte mir das Vorurteil, das Frauenforum sei im Rheintal auch belächelt worden.Jolanda Spirig: Ja, das stimmt, aber in den ersten Jahren waren wir für einige vor allem ein rotes Tuch, das haben wir sehr gut gespürt.Antonia Federer: Du selbst hast mich öffentlich belächelt, lieber Gert, im Zusammenhang mit einem Leserinbrief zu gendergerechter Sprache (gemeint ist das «Stichwort» vom 28. September 2019 mit dem Titel «Politiker und Politikerinnen», hier ist der Link zum Text auf rheintaler.ch). Ein anderes Beispiel erlebte ich, als jemand mir am Telefon sagte: «Sie sind sowieso so eini.»Welche Rolle spielt der Arbeitgeberverband Rheintal, wenn es um Frauenan­liegen geht?Jolanda Spirig: Mich hat sehr gefreut, dass der AGV mit Brigitte Lüchinger jüngst eine Präsidentin hatte, die Frauen sichtbar machte, zum Beispiel, indem  sie zu einem Lohnapéro ausschliesslich Referentinnen einlud.Erkennen Sie je nach Branche und gesellschaftlicher Schicht Unterschiede?Antonia Federer: Ein Stück weit ist das Frauenforum natürlich auch eine Bubble. Frauen aus anderen Kulturkreisen, vor allem aus Migrantenfamilien, leben in einer bestimmten Gemeinschaft und sind durch uns schwer zu erreichen. Die gewünschte Durchlässigkeit wird durchs internationale Frauenfest ermöglicht, das 1994 erstmals vom Frauenforum durchgeführt wurde und nun von der Fachstelle Integration organisiert wird. Dieses Kind des Frauenforums ist so gross geworden, dass es unsere Möglichkeiten heute überstiege.Jolanda Spirig: Leider gibt es auch das – erstaunlich verbreitete – Vorurteil von Frauen, nur unter Frauen zu sein, sei nur halb so lustig.Gibt es eine Organisation, einen Verband, eine Partei, der oder dem sie an dieser Stelle etwas zu bedenken geben möchten?Jolanda Spirig: Alle Gemeinden seien ermuntert, endlich angemessene Betreuungsstrukturen für Kinder zu schaffen, überall dort, wo sie noch fehlen.Antonia Federer: Darüber hinaus darf es nicht sein, dass eine Kita im Sommer drei Wochen geschlossen ist.Das Frauenforum sagt von sich, es habe viel bewegt. Nachhaltig bewegt?Jolanda Spirig: Das erwähnte internationale Frauenfest ist etabliert und nachhaltig.Antonia Federer: Aber alle Pflänzchen und Bäume sind selbstverständlich zu pflegen. Nachhaltig bleibt nichts von selbst. Wahlerfolge entfalteten aber schon eine nachhaltige Wirkung. Als Kathrin Hilber und Rita Roos für den Regierungsrat kandidierten, bekamen sie durch das Frauenforum eine Plattform in Widnau.Jolanda Spirig: Wir hatten gehofft, dass eine der beiden Frauen gewählt würde und freuten uns riesig, als beide es schafften. Das Frauenforum bot auch Heidi Hanselmann und der amtierenden Regierungsrätin Laura Bucher ein Podium. Mit unseren Kantonsrätinnen waren wir in permanentem Kontakt.Mit der heutigen Vertretung der Frauen in der Politik können Sie aber nicht zufrieden sein.Jolanda Spirig: Viele Frauen sind sich leider noch nicht bewusst, wie wichtig es ist, Frauen zu wählen. Wenn Frauen je zur Hälfte Frauen wählen, die Männer aber fast nur oder ausschliesslich Männer, wird die Gesellschaft in der Politik nicht angemessen gespiegelt.Antonia Federer: Ist eine Frau bereit, ein Amt zu übernehmen, verlagert sich die Familien- und Hausarbeit in aller Regel nicht etwa zum Mann, sondern zum Beispiel zu Grosseltern und Kitas. Aber die Organisation, das Familienmanagement, besorgt in aller Regel weiterhin die Frau.Jolanda Spirig: Ich erwarte von den Männern, dass sie ebenfalls vermehrt Frauen wählen.Es gibt aber schon Kandi­datinnen, die ich keinesfalls wählen würde.Antonia Federer: Natürlich sind nicht um jeden Preis Frauen zu wählen, aber erstens darf man in neue, noch kaum bekannte Kandidatinnen durchaus ein gewisses Vertrauen setzen, andererseits kann jede Wählerin und jeder Wähler sich kundig machen, die Kandidatin kontaktieren, sie kennenlernen.Warum hört das Frauen­forum gerade jetzt auf?Antonia Federer: Es ist vor allem eine Mischung von persönlichen und familiären Gründen.Hätte es nicht zu den Auf­gaben des Frauenforums gehört, frühzeitig Nachwuchs einzubinden, der die Arbeit weiterführt?Antonia Federer: Wir haben während langer Zeit nach Nachfolgerinnen gesucht, auch mit Hilfe jüngerer Kräfte. Dabei zeigte sich ein gegenüber früher eher geringes Interesse junger Menschen an der Politik.Jolanda Spirig: Sieh uns an: Wir haben alle graue Haare! Es ist unrealistisch, davon auszugehen, dass 20-Jährige Lust verspüren, im Frauenforum mitzumachen. Selbst etwas auf die Beine zu stellen, macht sicher mehr Spass.  Welche besondere Leistung hat das Frauenforum erbracht?Antonia Federer: Vieles wurde schon genannt. Wir waren zudem Teil eines übergeordneten Netzwerks und haben an An­lässen der Frauenvernetzungswerkstatt St. Gallen teilgenommen. Eng verbunden sind wir auch dem Frauenmuseum im vorarlbergischen Hittisau. Das Museum macht das Kulturschaffen von Frauen und Frauengeschichte(n) sichtbar.   Haben Sie je an einem Frauenstreik teilgenommen?Antonia Federer: Ja, 1991 und 2019, auch war ich unter anderem am Frauenkongress in Bern und an den zwei europäischen Frauensynoden in Gmunden und Barcelona.  Was sagen Sie einer Frau, die meint, sie brauche keinen Frauenstreik?Antonia Federer: Ich würde ihr nichts sagen, sondern sie fragen, was sie so macht, wie sie lebt, welche Familienform sie gewählt hat, was sie arbeitet, welche Ziele sie hat – und ob sie wisse, worüber Ende September abgestimmt wird.Jolanda Spirig: Ich finde wichtig, dass Menschen über den eigenen Gartenhag blicken. Auch dann, wenn es ihnen gut geht.  Bei vielen Männern stossen Frauen mit ihren Anliegen auf offene Ohren. Warum hat das Frauenforum dies nicht durch den Einbezug von Männern genutzt?Jolanda Spirig: Früher haben wir auch Männer zu politischen Podien eingeladen, damit sie die Kandidatinnen kennenlernten.Antonia Federer: Es braucht aber auch einen geschützten Raum, in dem wir Frauen unserer Stimme gegenseitig Gehör verschaffen konnten. Auch das ist wichtig.Hinweis: Abschiedsfest des Frauenforums Rheintal: Sonntag, 14. August, 17 Uhr, evangelisches Kirchgemeindehaus, Widnau. Anmeldung erwünscht: irmi.durot@healing-arts.ch

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