28.10.2021

Für Freiheit das Leben aufs Spiel gesetzt

Die Eritreerin Nigisti Teklemariam fand im Rheintal eine neue Heimat. Doch der Weg in die Schweiz glich einem Höllentrip.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
«Es war stockdunkel, als wir leise durch den Dornenwall gingen, der die Grenze zwischen Eritrea und Sudan markiert», erzählt Nigisti Teklemariam. Ein Dorn durchbohrte ihren Fuss, der stark blutete und schmerzte. Gedrängt von der Angst, entdeckt und ins Gefängnis gesteckt zu werden, musste sie mit ihren vier Begleitern schnell weiter. Später in der Nacht wateten sie zu fünft durch den Morast. Plötzlich blieb die damals 19-jährige Eritreerin stecken und konnte ihre Beine nicht mehr befreien. Kaum hatte die Reise begonnen, schien das Ende nahe.Neun Tage in der Wüste ohne Essen und TrinkenGemeinsam mit zwei Verwandten und zwei Bekannten machte sie sich 2014 zu Fuss auf den beschwerlichen Weg nach Europa. Gegen Bezahlung brachten Schlepper die Flüchtlinge nach Khartoum, wo Nigisti Teklemariam vorerst bei Verwandten Unterschlupf fand. Um ihrem Vater das Geld, das er den Schleppern zahlen musste, zurückgeben zu können, arbeitete sie als Haushaltshilfe. «Sechs Monate arbeitete ich 16 Stunden, fünf Tage die Woche und konnte doch nicht alle Schulden zurückzahlen», erinnert sie sich.Mit zirka 70 anderen ihr unbekannten Eritreern ging ihre Flucht 2015 weiter durch den Sudan Richtung Libyen. Eines Nachts wurde der Lastwagen von sudanesischen Militärs ge-stoppt und alle Insassen einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen. Nach der taktilen Demütigung habe man ihnen alle Wertsachen wie Schmuck und Handy gestohlen, die Heimatvertriebenen aber glücklicherweise weiterfahren lassen. Zwei Tage später erlitt der Lastwagen in der Wüste einen Defekt. «Wir waren gestrandet», sagt Nigisti Teklemariam. Insgesamt verharrten sie neun Tage in der Wüste ohne Essen und Trinken. «Um nicht zu verdursten, haben wir mit einem Schlauch einige Schlucke Benzin aus dem Reservekanister getrunken», erzählt die Eritreerin. Es schmeckte übel und schlug auf den Magen, aber im Gegensatz zu anderen überlebte sie die Reise durch die Sahara.Drei Monate Hölle im libyschen GefängnisIn Libyen erhielten sie Nah-rung. Neue Hoffnung keimte auf. Bewaffnete Schlepper begleiteten sie, malträtierten sie mit den Füssen oder den Gewehren und die Gefahr von sexuellen Übergriffen sei omnipräsent gewesen.Ein paar Tage später wurden sie, da sie sich illegal im Land aufhielten, ins Gefängnis geworfen. «Die Wächter schlugen uns ohne Grund», erzählt die junge Frau, «und sie hielten uns ihre Waffen an den Kopf, um uns Angst zu machen.» Angst wurde ihr steter Begleiter. Einige wurden beim Versuch zu fliehen erschossen, andere starben, weil sie krank wurden. Eines Nachts hätte sie die Flucht mit einer Gruppe Frauen auch versucht, sie seien aber nicht weit gekommen. Die Strafe der Wärter sei hart und gnadenlos ausgefallen.Nach drei Monaten bezahlte ihre Familie in Eritrea Lösegeld und sie wurde freigelassen. Schlepper hätten sie in Autos eingepfercht von Ort zu Ort verfrachtet. «Wir wussten nicht mehr, wo wir waren, welcher Tag oder welche Zeit es war», sagt die heute 26-Jährige. Plötzlich sei alles schnell gegangen. Sie erreichten den Strand, wo es mit einem Holzboot übers Meer ging. Matrosen eines italienischen Schiffes hätten sie aufgegriffen und nach Sizilien gebracht. «Ich war sehr aufgeregt und fühlte mich wie ein zweites Mal geboren», sagt Nigisti Teklemariam.Der Jugend fehlt es an Perspektiven«Als Kind hätte ich nie gedacht, dass ich meine Familie und mein Heimatland verlassen muss», sagt Nigisti Teklemariam. Als sie älter wurde, begann sie die Situation in Eritrea zu verstehen. Es gibt keine Entwicklung, keine Demokratie und kein Rechtssystem, dafür werden die meisten Einwohner in den Militärdienst eingezogen, wo Willkür herrsche und man jahrelang ausgebeutet werde. Im Land gäbe es weder Entfaltungs- noch Ausbildungsmöglichkeiten, dafür Korruption. «Der Jugend fehlt es an Perspektiven, weshalb viele eine Flucht einem Leben im Militär vorziehen.»Nach anderthalb Jahren auf der Flucht kam die Eritreerin im Herbst 2015 in die Schweiz nach Eichberg. Aktuell lebt sie mit zwei Schweizerinnen in einer WG in Heerbrugg und arbeitet als Pflegehelferin SRK im Altersheim Geserhus in Rebstein, wo sie die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit antreten möchte. «Obwohl Migrantinnen und Migranten arbeitswillig sind, ist es schwierig, Arbeit zu finden», sagt die Pflegehelferin. Umso dankbarer sei sie um die beständige Unterstützung ihrer Freundinnen aus der Praktikumszeit im Spital Altstätten, die sie bei all ihren Vorhaben bestärken.In ihrer Freizeit arbeitet Nigisti Teklemariam als Dolmetscherin bei der Fachstelle Integration. Sie liebt es, am Alten Rhein zu spazieren und mit ihren Mitbewohnerinnen alte Filme anzuschauen. Ausserdem mag sie es, mit anderen Menschen zu kommunizieren und neue Leute kennen zu lernen.«Ich habe hier bekommen, was ich zum Leben brauche», sagt die Pflegehelferin, «die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, eine Ausbildung zu machen und einem Job nachzugehen.» Hier gefallen ihr die Menschenrechte und die damit verbundenen Freiheiten für die Menschen. Nach der Ungewissheit, ob sie bleiben darf, verspüre sie keine Angst mehr, frage sich aber, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen werde. Sie stehe mit ihr in Kontakt. Besonders an Feiertagen vermisse sie ihre Heimat. Dann braucht sie eine Freundin, die sie in die Arme schliesst. Sie wünscht sich, die Ausbildung erfolgreich zu beenden und zusammen mit ihrem Mann, der noch auf dem Weg nach Europa ist, eine Familie zu gründen. Auch wenn sie teilweise von Heimweh geplagt werde, sei sie froh, hier zu sein: «In Eritrea hat sich nichts verändert», sagt Nigisti Teklemariam. Wegen Corona gäbe es noch grössere Einschränkungen. Ob sich die Lage verbessern werde, sei schwierig abzuschätzen.Ob sie die Flucht nochmals wagen würde, könne sie nicht sagen. Aber für die Freiheit, die sie gefunden hat, und die Möglichkeit, ihr Ziel von einer Ausbildung zu verwirklichen, habe es sich gelohnt.

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