25.03.2021

Früh wurde «ein Same gelegt»

In der Biografie der Clownin Gardi Hutter ist ausführlich von ihrer Kindheit und Jugend im Rheintal die Rede.

Von Rolf App
aktualisiert am 03.11.2022
Rolf AppAls am 28. Oktober 2010 ihr Programm «Die Schneiderin» Premiere hat, ist es für Gardi Hutter eine Rückkehr in die Kindheit. Im Haus, in dem sie in Altstätten aufgewachsen ist, liegt ihr Zimmer neben dem Änderungsatelier. «An den Wänden waren die Fadenspulen an Nägeln aufgesteckt. Die Knöpfe wurden in vielen kleinen Schubladen aufbewahrt. Ich liebte es als Kind, dort zu spielen.» Jetzt sitzt sie auf der Bühne lachend in einem überdimensionierten Nähkasten, «ein weibliches, unförmiges Wesen mit verfilztem Haar, roter Nase und Flickenkleid», wie ihre Biografin Denise Schmid die Szene beschreibt.Wenige Monate zuvor ist ihr Vater 91-jährig gestorben. Gardi Hutter ist überzeugt, die komische Hommage an das Leben und an seinen Beruf hätte ihren Eltern sehr gefallen. Sie wundert sich: «Ist das nicht verrückt? Da habe ich so viel getan, um meine Herkunft hinter mir zu lassen, ein anderes Leben zu führen, dann stehe ich mit Ende fünfzig als Schneiderin auf der Bühne.» Doch die Eltern, die Kindheit und Jugend im Rheintal, die drei Brüder, die wilde Fasnacht, und sogar die katholische Kirche mit ihrer lebensfeindlichen Sexualmoral: Das ist der Nährboden, auf dem sich das Talent dieser einzigartigen Künstlerin entfaltet hat – vielleicht gerade weil sie sich so weit von ihren Wurzeln hat entfernen müssen, um zu ihrer Clown-Figur, der tapferen, eigenwilligen, verträumten Hanna zu finden.Zeitreise ins Rheintal der FünfzigerjahreIn der gerade erschienenen Biografie «Trotz allem. Gardi Hutter» zeichnet Denise Schmid diesen verschlungenen und doch wieder sehr konsequenten Weg nach. Sie ist zugleich eine Zeitreise in die Fünfziger- und Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts und eine Milieuschilderung aus dem Rheintal.Vater wie Mutter kommen aus Kriessern. Die Hutters wohnen im Unterdorf mit zwölf Kindern. Sie sind ärmer als die Dietsches aus dem Oberdorf mit ihren acht Kindern. Als Erwin Hutter um Irma Dietsche wirbt, will sie zunächst nichts von ihm wissen, obschon ihr Vater durchaus angetan ist vom jungen Mann, der wie seine Tochter das Schneiderhandwerk gelernt hat. Sie sei zu wenig verliebt, erklärt sie, und wendet sich an einen Pater. Der rät ihr, sich doch einmal auf die Knie des jungen Mannes zu setzen, der Rest werde sich schon finden.Am 7. Oktober 1946 wird geheiratet. In Altstätten eröffnet das Paar ein Kleidergeschäft, und zwischen 1948 und 1955 kommen vier Kinder zur Welt: Erwin, Fredi, am 5. März 1953 dann Irmgard, die alle Gardi nennen, schliesslich Gilbert. Drei Buben und ein Mädchen, das gern mit ihnen herumtollt, und ganz anders ist, als man es von ihr erwartet – vor allem auch die wachsame, stark kontrollierende Mutter. Gardi hadert mit diesem Mädchenbild, wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter», fasst Denise Schmid zusammen.«Tapfere Bauernkinder,die alles gegeben haben»Gardi Hutter wächst in einer Welt und in einer Zeit auf, die den Menschen wenig Freiheit lässt. Männer- und Frauenrollen sind ebenso festgeschrieben wie die Autorität der Eltern und jene der Kirche. Der Katholizismus ist – noch – eine Macht. «Es war nicht mal erlaubt, daran zu denken, einen Jungen zu küssen», erinnert Gardi Hutter sich. Und weiter: «Über Schuldgefühle stolpere ich heute noch. Das war für mich das Schwierigste aus meiner Erziehung: das wieder loszuwerden.» Viel später wird ihr klar werden, dass ihre Eltern, die diese gesellschaftlichen Regeln vermittelt hatten, auch Eingesperrte waren. Als sie 1995 im Theater St. Gallen den Kulturpreis bekommt, ist der ganze Altstätter Gemeinderat anwesend. «Meine Eltern, beide schon über siebzig, standen etwas verlegen, fast schüchtern daneben. Sie konnten sich in solchen Kreisen nicht unbeschwert unterhalten. Ich sah sie dort stehen und erkannte die zwei tapferen Bauernkinder, die alles gegeben hatten.» Die Tochter muss sich entfernen aus dieser Welt, sie spürt es. Sie liest gern, träumt sich in fremde Welten. Sie liebt die Fasnacht, diesen Ausnahmezustand, in dem man sich verkleiden darf, in dem man flucht und schreit. «Diese Erlebnisse von gleichzeitigem Gruseln und Lachen, Erschrecken und Feiern haben mich geprägt», sagt sie. «Da wurde in meiner Kindheit ein Same gelegt.»Dieser Same aber treibt Blüten, auch wenn die Mutter ganz andere Pläne hat. Denn ausbrechen, das wollen an der Wende zu den Siebzigerjahren auch andere. Im katholischen Mädcheninternat Stella Maris in Rorschach besucht sie die Sekundarschule und lernt die Beatles kennen, an der Kantonsschule in St. Gallen dann verkehrt sie in dezidiert linken Kreisen. Manchmal kommt die Mutter frühmorgens unangemeldet nach St. Gallen, um zu kontrollieren, ob nicht ein Mann bei der mittlerweile 17-jährigen Tochter übernachtet. In solchen Momenten kann die Tochter souverän das kreuzbrave Mädchen mimen.Viel nimmt sie mit aus der Heimat, Schönes und Belastendes. Und formt daraus sehr viel, später die tapfere Hanna: Eine Heldin, die so gar nichts Heldisches an sich hat, und in der sie überspitzt, was sie negativ erlebt hat. Gardis Trotz, ihre Wut, ihr Leiden an den gängigen Schönheitsbildern, ihre Minderwertigkeitsgefühle, ihre Beschäftigung mit dem Feminismus – all dies fliesst ein. Und die Zeit ist reif für eine komische Frau.HinweisDenise Schmid: «Trotz allem. Gardi Hutter», Verlag Hier und Jetzt 2021

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