10.02.2022

Freigesprochen, weil die Polizei schlampte

Betrunken durchs Städtli fahren, Fassade streifen, Sitzbank rammen – und straffrei davonkommen: Das gibt es. Dank der Polizei.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Gert BrudererHerbeigerufen von zwei Zeuginnen, waren die Ordnungshüter am Abend des 6. Juni 2020 rasch zur Stelle, nachdem ein heute 30-Jähriger im «Gemüsemarkt» in eine Hausfassade und kurz darauf in der parallel verlaufenden Obergasse beim Parkieren auch noch in eine Sitzbank gefahren war. Bald darauf war der Fahrzeuglenker ausfindig gemacht. Die Polizisten fanden ihn zu Hause schlafend im Bürostuhl vor.«Meh usegheit als usgstiege»Vor Gericht behauptete der 30-Jährige, sich an nichts mehr erinnern zu können. Einen Filmriss habe er gehabt. In einer Beiz hatte er «sicher e Bier trunke, dänn nomol eis, irgendwenn hät’s emol Schnaps geh und dänn – schwarz». Wie später der Lieferwagen die paar hundert Meter von der Beiz in die Obergasse kam, wisse er nicht. Doch sollte wirklich er gefahren sein, so tue es ihm furchtbar leid.Eine der Zeuginnen hatte den Mann auf dem Polizeiposten «eindeutig» als den Betrunkenen identifiziert, der durchs Städtli fuhr. Nachdem er das Auto in der Obergasse abgestellt habe, sei er aus dem Lieferwagen «meh usegheit als usgstiege». Auch die zweite Zeugin meinte, «er hät Müeh gha bim Usstiege, ’s hät en fascht use-gschlage».Der Vater führte die Polizei zum SohnDer Verteidiger versuchte darzulegen, dass auch jemand anderer als sein Mandant gefahren sein könnte – der Arbeitskollege, der auch in der Beiz war.Oder der Vater, der als Fahrzeughalter eingetragen ist. Ihm kommt in der Geschichte eine Schlüsselrolle zu. Zwei Polizisten suchten ihn zu Hause auf, das heisst rund einen Kilometer ausserhalb des Städtlis. Weil der Mann nicht öffnete, die Polizisten aber viel Rauch in der Küche bemerkten und deswegen eine Brandgefahr befürchteten, betraten sie durch die bloss angelehnte Balkontür das Haus.Als diese Polizisten Mitte Januar dem Richter Auskunft gaben, sagten sie, auf dem Herd hätten zwei im Plastik eingepackte Würste in kochendem Wasser gelegen, und ein halb über der Pfanne gelegenes Tuch habe «schon zu motten angefangen». Der Vater des Beschuldigten habe im Wohnzimmer geschlafen und sei angetrunken gewesen.Am zweiten Verhandlungstag, diesen Mittwoch, sagte der Mann, er habe «das mit dem Tuch» in der Zeitung gelesen, es sei aber gar nicht möglich, dass es mottete, er habe einen Gasherd, und das Tüechli hätte gleich zu brennen angefangen, hätte es tatsächlich da gelegen.Später meinte er, er sei ex-trem «verschrocke, wo di beide Herre bi mir i de Stube gschtande sind». Der Mann hatte an diesem Abend mit Kollegen gefestet und viel Alkohol getrunken.«Viel z’viel Fehler» sind passiertVon dem Mann erfuhr die Polizei, dass gleichentags sein Sohn mit dem Lieferwagen unterwegs gewesen sei. Der Vater zeigte ihnen, wo er wohnt, schloss die Tür auf und führte die Polizisten direkt zum Bürostuhl, in dem der Beschuldigte eingeschlafen war. Das Problem dabei: Der Vater war von den Polizisten weder auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden noch war ihm gesagt worden, dass er nicht verpflichtet sei, den eigenen Sohn zu belasten. Er hätte sich auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht berufen können. Weil das versäumt wurde, sind alle dank des Vaters erhobenen Beweise unverwertbar. Schon am ersten Verhandlungstag Mitte Januar hatte das Gericht die polizeiliche Einvernahme des Beschuldigten für unverwertbar erklärt. Die Polizisten hatten es versäumt, den Mann über sein Recht auf eine amtliche Verteidigung aufzuklären.Am zweiten Verhandlungstag gab das Gericht dem Verteidiger insofern recht, als die Polizei den jungen Mann nur dank der Mithilfe des Vaters rasch ermitteln konnte. Weil die Polizisten es versäumt hatten, den Mann über seine Rechte aufzuklären, ist nun aber nichts von alledem verwertbar, was nur dank des Vaters Hilfe ermittelt wurde.Hinzu kommt, dass auch eine Blutprobe nötig gewesen wäre, derweil die Polizei sich mit einem Atem-Alkoholtest begnügt hatte. Dieser ergab einen rechtlich relevanten Wert von 0,94 mg/l bzw. (wie es früher hiess) gut 1,8 Promille. Ihren schlechten Ruf in diesem Fall festigte die Polizei, indem Fotos (in des Richters Worten) «auf wundersame Weise verschwanden», aber auch ein Splitter steht völlig quer in der Beweislandschaft. Dieser Splitter war bei der gerammten Hausfassade nachts gefunden worden und er hat laut Polizist präzis zur beschädigten Beleuchtung des Lieferwagens gepasst. Dass dieser Splitter aber erst tags darauf sichergestellt wurde und nun überhaupt nicht mehr vorhanden ist, erachtet auch der Richter als «sehr eigenartig».Trotz der «viel z’viel» Fehler, wie der Richter meinte, hätte der 30-Jährige unter gewissen Umständen schuldig gesprochen werden können. Nämlich dann, wenn die Polizei auch auf anderem Weg als über den Vater auf den Fahrzeuglenker gekommen wäre, wenn beispielsweise die Zeuginnen den Mann bzw. seine Wohnadresse gekannt hätten. Ohne einen solchen Handlungsstrang, der ohne Vaters Mittun zur Ermittlung des Sohnes geführt hätte, blieb dem Gericht nur eines zu tun: den Beschuldigten auf ganzer Linie freizusprechen. Auch wenn dieser Freispruch – der Richter erwähnte es selber – sehr seltsam anmute.

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