26.07.2021

«Fliegen ist das kleinere Risiko»

Zweimal bereits schlug Urs Vetsch aus Sax dem Tod ein Schnippchen. Aber nicht in der Luft, sondern im Alltag.

Von Alexandra Gächter
aktualisiert am 03.11.2022
Beinahe 30 Jahre ist es her, seit Urs Vetsch mit dem Gleitschirmfliegen begann. Damals war er 23 Jahre jung. In den Neunzigerjahren gab es sehr wenig Gleitschirmpiloten. Einer davon war ein Saxer Deltapilot, der mit der Trillerpfeife im Mund über das Dorf flog. «Er war ein Freak. Und mein Vorbild», sagt Urs Vetsch. 200 Flüge absolvierte der Saxer damals pro Jahr.Heute kann der 52-Jährige auf 1000 verletzungsfreie Flugstunden zurückblicken. Pro Jahr fliegt Vetsch mittlerweile «nur» noch um die 50 Mal, dafür ist er auf Langstreckenflüge umgestiegen. Bis zu acht Stunden gleitet Urs Vetsch in der Luft. Fliegt über die heimischen Kreuzberge oder erkundet in Kolumbien, Griechenland oder Italien die grosse Weite des Himmels. Dabei erlebt er Abenteuer und schier unendliche Freiheit.Der Schirm befand sich plötzlich unter ihmDer erfahrene Gleitschirmpilot ist Präsident des Gleitschirmclubs Vaduz und einer der wenigen Piloten, der einen Schirmsponsor hat. Angst hat Urs Vetsch keine vor dem Fliegen, wohl aber Respekt. In den 30 Jahren, in denen er fliegt, hat er nur wenige heikle Momente erlebt. Dieser hier blieb ihm im Gedächtnis: «Verschiedene Winde haben dazu geführt, dass mein Schirm zusammenklappte und sich plötzlich unter mir anstatt oben befand. Als wäre das noch nicht schlimm genug, riss auch noch der Bremsgriff ab.» Zehn Kilometer lang flog er ohne Bremse. Der erfahrene Pilot nutzte danach den Gegenwind, um auf einer offenen Wiese sanft zu landen. «Solche Situationen sind unangenehm. Wenn man sie beherrscht, sind sie aber nicht verheerend», sagt Vetsch. Wichtig sei, dass man Erfahrung habe und cool bleibe. «Es gibt solche, die erleiden einen Blackout. Das kann kritisch werden, da in heiklen Situationen innerhalb zwei Sekunden richtig reagiert werden sollte.»Ein anderes Mal testete Urs Vetsch für einen Hersteller einen neuen Schirm. Als er damit ein Manöver ausprobierte, musste er seinen Rettungsschirm ziehen. Er landete «sanft auf einer Tanne», von der er hinunter klettern konnte. Der Hersteller zog darauf den Schirm zurück und startete eine Eintauschaktion für alle, die ihn bereits gekauft hatten.Nun könnte man annehmen, Gleitschirmfliegen sei ein gefährlicher Sport. Urs Vetsch hat eine andere Sichtweise. Ginge es nach den Ärzten, hätte er schon zweimal tot sein müssen – aber nicht infolge Flugunfällen. «Fliegen ist das kleinere Risiko. Das Leben ist viel gefährlicher», sagt Vetsch. Er weiss es aus Erfahrung. Die Dienste seines Schutzengels nahm Urs Vetsch erstmals mit 15 Jahren in Anspruch. Damals erlitt er einen sehr schweren Skiunfall, schwebte in Lebensgefahr und wurde zehn Stunden operiert. Ein nächster Wendepunkt ereignete sich Anfang des Jahres 2020. Sein Hausarzt forderte ihn auf, sich durchchecken zu lassen. Dabei wurde bei Urs Vetsch ein Speiseröhrentumor festgestellt. Seine Lebenserwartung betrug drei Monate.«Glücksgefühle sind die beste Medizin»Der Arzt verordnete Chemotherapie und Bestrahlung und warnte vor den schweren Nebenwirkungen. Von denen spürte Urs Vetsch aber nicht viel. Kurz nach der Chemo unternahm er einen 130-Kilometer-Flug – sein Rekord. Und er schlug dem Tod ein zweites Mal ein Schnippchen. Seine Lebenserwartung nach der Krebsdiagnose hat er mittlerweile um ein Mehrfaches überschritten. «Glücksgefühle sind die beste Medizin. Wieso soll ich also aufs Fliegen verzichten?», sagt Vetsch. Er wolle, solange es gehe, die unendliche Freiheit hoch in der Luft geniessen, die Welt von oben betrachten und seinen Gleitschirmkollegen bei Sonnenuntergang zujauchzen. Bis zum letzten Tag. Und der wird – rein statistisch gesehen – nicht beim Fliegen enden.

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