Ein Sterngucker hatte kein Interesse am Regieren. Er fühlte sich keineswegs königlich, und der Reichtum seiner Familie war ihm gleichgültig. Bei seinen nächtlichen Beobachtungen vom Turm des Schlosses entdeckte er schliesslich den besonderen Stern. Am Tag las er in alten Schriftrollen und erkannte:
Der neue König der Juden ist geboren.
Entschlossen, diesem Stern zu folgen, verabschiedete er sich von seinem Zuhause. Doch er benötigte noch ein Geschenk für das Königskind.
Er entschied sich für Harz von einem Myrrhenbaum und legte es in eine hübsche kleine Truhe. Das Harz der Myrrhe galt als wertvolle Medizin, die zwar bitter schmeckte, aber bei vielen Leiden half. Noch wichtiger war, dass es ein wesentlicher Bestandteil des Salböls für Könige war – ein würdiges Geschenk, um seine Achtung vor dem neuen König zu bezeugen.
Da er selbst ein aussergewöhnlicher Mensch war, sollte auch sein Geschenk etwas Besonderes sein.
Auf seinem Weg, begleitet von zwei Gleichgesinnten, erlebte er Höhen und Tiefen. Der Stern leuchtete besonders hell, und er sehnte sich danach, dem Kind bald zu begegnen. Als er schliesslich an der Krippe ankam, kniete er nieder und weinte vor Freude und Dankbarkeit. Seine Bitterkeit, Unsicherheit und Fragen fanden hier einen Ort der Ruhe. Er fühlte sich durch das Kind geheilt.
Kein Gold, keinen Weihrauch, keine Myrrhe haben wir Dir anzubieten, Herr. Nur ein zerschlagenes und blutendes Herz.
So beginnt ein Gebet von Severin Schneider. Das blutende Herz erinnert an die dritte Gabe, die die Weisen dem Kind in Bethlehem schenkten: die Myrrhe. Myrrhe ist kostbarer und wertvoller als Weihrauch. Sie wird aus buchstäblich blutenden Bäumen gewonnen – dornigen Buschbäumen, die in Äthiopien, Somalia und Südarabien wachsen.
Man schneidet mit Messern die Rinde an, der Baum weint; die Tränen trocknen an der Luft zu Harz. Doch die Wunden dürfen nicht heilen; immer wieder schneiden die Messer in die alten Wunden und reissen die vernarbten Stellen erneut auf.
Wunden, die immer wieder aufreissen
Dieses Bild spiegelt unser Leben wider. Es gibt Wunden, die immer wieder aufreissen – vor allem seelische. Doch nur über sie kommt das Kostbare, das Wesentliche unseres Lebens zum Vorschein; sie zeigen, wie viel Liebe ein Mensch in sich trägt.
Wir dürfen dem Herrn die Myrrhe unseres Lebens, unsere Verwundungen und Tränen in die Krippe legen. «Kein Gold, keinen Weihrauch, keine Myrrhe haben wir Dir anzubieten, Herr. Nur ein zerschlagenes und blutendes Herz.»
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Fest der Epiphanie, das Fest der Begegnung der Weisen mit dem Jesuskind. Möge über Ihrem Leben immer ein Stern leuchten – ein Licht, das Ihre Wunden in wertvolle Myrrhe verwandelt und Sie auf Ihrem Weg führt.