25.08.2022

«Es ist einfach nicht richtig, was im Moment passiert»

Ein Konzertabbruch in Bern vor einem Monat entfachte die Debatte zur kulturellen Aneignung in der Schweiz. Die Rheintaler Musikerin Manuela Oesch-Olowu ist verunsichert. Und das wegen ihrer Frisur.

Von Cassandra Wüst
aktualisiert am 02.11.2022
Nach den Protesten gegen weisse Musiker mit Dreadlocks hat die Debatte über kulturelle Aneignung kürzlich in der Schweiz an Fahrt aufgenommen. In Bern wurde ein Konzert der Band Lauwarm abgesagt, weil sich einige Gäste «unwohl» fühlten. Die Band spielte jamaikanische Musik und einige ihrer Mitglieder trugen afrikanische Kleidung und Dreadlocks. Nur wenige Wochen später wurde ein Konzert des österreichischen Gitarristen Mario Parizek, der ebenfalls Dreadlocks trägt, in Zürich vorzeitig abgesagt. Zuletzt stand das Komikerduo Ursus & Nadeschkin wegen des Tragens einer Perücke in der Kritik. «Das fühlt sich an wie eine seltsame Art von Diskriminierung», sagt Manuela Oesch-Olowu.Die Musikerin aus Rebstein steht mit verschiedenen Formationen wie Mama’s Jukebox, Peat oder Organic Stuff auf der Bühne und spielt sich quer durch Stile von Funk bis Pop. Und: Sie trägt Dreadlocks. Die hitzige Debatte hat sie verunsichert. Der Gedanke, dass eines ihrer Konzerte abgesagt werden könnte, weil sich die Gäste wegen ihrer Frisur «unwohl» fühlen könnten, hat sich wie eine dunkle Wolke über sie gelegt. «Es ist einfach nicht richtig, was im Moment passiert.»Von Unglauben, über Wut bis hin zu TraurigkeitEs ist Dienstagmorgen. Ma­nuela Oesch-Olowu sitzt auf einem orangefarbenen Stuhl an einem Tisch im Gartencafé der Gärtnerei Zwischennutzung in Altstätten. In dem von Minihäusern und Containern geprägten Künstlerviertel hat die 52-Jäh­rige ihr eigenes Atelier als Sattlerin. Das Rheintal kennt sie als lebenslustige, kreative, authentische und aufgeschlossene Person.Doch an diesem Dienstag ist ihre Stimmung gedämpft. Sie scrollt auf ihrem Handy durch die Artikel der letzten Wochen, die über kulturelle Aneignung berichten, und schüttelt den Kopf. «Die ganze Sache hat mich brutal getroffen. Es kamen Emotionen hoch, von Unglauben über Wut bis hin zu Traurigkeit», sagt sie und schaut auf ihre Hände. «Es ist einfach dieses Gefühl, dass man mit Kanonen auf  Spatzen schiesst.»Nie im Leben hätte sie, als sie sich vor 17 Jahren Dreads machen liess, gedacht, dass diese es ihr eines Tages erschweren würden, Konzerte zu geben. «Ich bin verunsichert. Und das wegen meiner Frisur.»Respekt und Bewusstsein als Schlüsselwörter«Cultural Appropriation», zu Deutsch kulturelle Aneignung, bedeutet, dass Mitglieder einer Dominanzgruppe kulturelle Elemente einer Minderheitengruppe, wie Musik oder Kleidung, in ausbeuterischer, respektloser oder stereotyper Weise übernehmen. Diese Denkweise ist für Oesch verständlich. «Wenn man aber tiefer in eine Kultur eindringt und sie zu schätzen weiss, sieht die Sache ganz anders aus», sagt sie und nimmt einen Schluck Eistee. Durch ihren Mann, einen Nigerianer, den sie vor 22 Jahren heiratete, hat sie ein entsprechendes Verständnis für dessen Kultur. Die Konsequenzen, die derzeit in der Schweiz im Namen der kulturellen Aneignung gezogen werden, sind für sie und ihren Mann unbegreiflich. «Wo soll das hinführen? Sollen wir dann beschliessen, dass nur noch Schwarze Reggae oder Soul spielen dürfen?»Gerade in der Musik sollte es keine Grenzen geben. Sie lebt von der Durchmischung. «Respekt und Bewusstsein sind hier die Schlüsselwörter», sagt sie. Einen Masterplan zur Lösung des aktuellen Konflikts hat sie nicht. Wenn sich ein Gast bei einem ihrer Konzerte «unwohl» fühlt, sollte er das direkte Gespräch mit ihr suchen. «Das Abbrechen des Konzerts durch den Veranstalter zu veranlassen, hilft überhaupt nicht weiter. Das macht einen nur traurig und wütend und ist keine Grundlage für etwas Konstruktives», sagt Oesch. Sie spielt mit der Eisteeflasche in ihren Händen. Konzertbesucher fragte sie nach ihrem BefindenWas bleibt, ist dieses dumpfe, unbehagliche Gefühl. «Die Angst ist latent vorhanden. Ich werde mir deshalb aber nicht die Dreadlocks abschneiden», sagt sie. Und obwohl ihr im Rheintal noch nie jemand auf seltsame Weise begegnet ist oder mit ihr über das Thema gesprochen hat, spaziert sie nicht mehr unbeschwert durch die Strassen.Vor ein paar Wochen, an einem Konzert in Arbon, wurde sie von einem Berner Zuschauer angesprochen. Nicht aggressiv oder böswillig. Er wollte einfach wissen, wie sich die Musikerin nach dem Vorfall in Bern, der alles ins Rollen gebracht hat, fühle. «Ganz einfach», sagt sie, «unwohl.»

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