1949 entstanden erste Pläne für eine Altstätter Ostumfahrung. Nadja Hatheyer (56), daheim an der Altstätter Bahnhofstrasse, meint heute ungerührt: «Wenn die Umfahrung fertig sein wird, bin ich wohl mit dem Rollator unterwegs.»In der Stadt mit 12000 Einwohnerinnen und Einwohnern haben 141 Stimmberechtigte die Planung der Ostumfahrung aus dem Budget gestrichen. 138 hätten sie gewollt. Der knappe Entscheid fiel vor zwei Monaten. Die Zuversicht direkt Betroffener ist mehr und mehr geschrumpft und «Geduld» längst zum Fremdwort geworden.In den letzten zwanzig, dreissig Jahren war das Thema immer wieder aktuell, zunehmend intensiver. Die Behörden taten einen Schritt nach vorn, einen zurück, wieder einen nach vorn, wieder einen zurück.
[caption_left: Siegfried und Nadja Hatheyer sowie Sohn Thomas wohnen am namenlosen Schleichweg in zwei Häusern. Sie beklagten sich nicht, sagen sie, aber ja, der Verkehr habe spürbar zugenommen.]Die Zufahrt zum eigenen Grundstück ist oft versperrtAn der Kriessernstrasse, in unmittelbarer Nähe des Bahnübergangs, ist Urs Dörig (66) daheim. Hat der noch beratend Tätige ausser Haus einen Termin, legt er ihn so, dass es ihm möglich ist, sein Grundstück zu verlassen.Jede volle Stunde, mehrere Minuten vorher und danach, ist Dörigs Zufahrt von der stehenden Kolonne abgeriegelt, die sich in den Spitzenzeiten bis zur Kreuzung an der Bahnhofstrasse staut und sich dann über 300 Meter erstreckt. Auch in der Mitte jeder Stunde gibt es eine Phase, die in aller Regel ungeeignet ist, sich mit dem Auto auf den Weg zu machen.Die Bahnhofstrasse führt zum Bahnhof, die Kriessernstrasse, praktisch parallel, zum Bahnübergang. Ein kurzes namenloses Strassenstück verbindet beide Strassen. Hier wohnen Siegfried und Nadja Hatheyer und gleich nebenan ihr Sohn Thomas.Um sie herum hat der Verkehr zu verschiedenen Tricks Zuflucht genommen.[caption_left: Hat Urs Dörig auswärts einen Termin, legt er ihn so, dass er sein Grundstück mit dem Auto sicher verlassen kann.]Schleichwege hier, Schleichwege daAuf die namenlose Strasse biegen viele ab, die von der Kriessernstrasse Richtung Bahnhof müssen und das Warten vor der Schranke so vermeiden.In der Gegenrichtung wird das namenlose Strässchen ebenfalls benützt. Wer von Kriessern her in Richtung Städtli fährt und auf die Bahnhofstrasse wechselt, lässt die nächste Kreuzung dank des Vortritts zügig hinter sich zurück, statt abermals in der Kolonne auszuharren.Jenseits der Schranken sind ebenfalls Schleichwege beliebt. Sie haben an Bekanntheit zugenommen und sind sozusagen der Ersatz für eine fehlende Umfahrungsstrasse. Wer den Barrieren ausweicht, kommt dank einer kleinen Unterführung irgendwo im Riet zwar ungehindert vorwärts, macht deswegen aber einen (je nach Zielort) grossen Umweg. In der Stunde sind die Barrieren sicher sechsmal unten, oft auch häufiger. Denn Güterzüge und ab und zu durchfahrende Loks sind nicht eingerechnet.Schlimmstenfalls beträgt die Wartezeit die Hälfte einer Stunde, im günstigsten Fall zwanzig Minuten. Kommt nach einem Zug der nächste mit Verspätung, bleibt die Schranke auch mal länger unten. Ist sie oben und das Rotlicht fängt zu blinken an, ist die Versuchung gross, aufs Gaspedal zu drücken. Auch schon habe jemand vor dem Übergang noch überholt, erzählt Urs Dörig.[caption_left: Früher gab es südlich vom Bahnhof einen zweiten Bahnübergang. Trotz fehlender Ostumfahrung wurde er in eine Unterführung für den unmotorisierten Verkehr umgewandelt.]Konzept von 2004 ist ein Flickwerk gebliebenEin Schlüsseljahr für alle Menschen, die westlich der Bahnlinie nahe beim Bahnhof wohnen, war 2004.Damals haben die Stimmberechtigten das Verkehrskonzept gutgeheissen. Sie sagten Ja zur Südumfahrung, also zu einer Verbindung von Oberrieter- und Kriessernstrasse. Einer der früher zwei Bahnübergänge wurde für Autos und Lastwagen geschlossen.Die Familie Hatheyer erlebte dies zwar insofern als Vorteil, als ein Teil des Verkehrs sich auf die ferne Oberrieterstrasse verlagerte. Der andere Teil rückte näher zum eigenen Haus.Doch keine Sorge, hiess es aus dem Rathaus sinngemäss, die Südumfahrung sei bekanntlich erst der Anfang. Mit zwei Böllerschüssen wurde er gefeiert, als am 4. April 2005 der Spatenstich erfolgte. Der damalige Stadtpräsident Josef Signer sagte, richtig vorwärts sei es leider lange nicht gegangen, jeder Lösungsansatz sei auf Widerstand gestossen.Aber jetzt ...!Wie ein Hausbau ohne PfählungNur leider dehnte dieses Jetzt sich wie ein Gummiband, bis im Oktober 2010 der «Rheintaler» titelte: «Ostumfahrung: Der Weg ist geebnet.» Weitere acht Jahre später, im September 2018, lautete eine Schlagzeile: «Ostumfahrung wieder prioritär.»Denkt Urs Dörig an den einst vollwertigen zweiten Bahnübergang und ruft er sich das politische Vorgehen in Erinnerung, empfindet er ein Unbehagen. Denn das Ganze kommt ihm vor wie der Bau eines Hauses, bei dessen Entstehung man, angekommen im zweiten Stock, plötzlich erkennt, dass man noch pfählen sollte.Schliesslich wurde sogar eine Petition eingereicht. Vier Jahre ist das her. Die Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Gesellschaft (der Urs Dörig vorstand) und die Altstätter CVP hatten die Bittschrift lanciert. Die 1400 gesammelten Unterschriften entsprachen dem Zehnfachen jener Stimmen, die letzten November die Streichung des Planungskredits für die Ostumfahrung bedeutet haben.Grosse Vorarbeit bis 2012, aber kein VorprojektEtwa zur gleichen Zeit, als die Bittschrift lanciert worden war, sagte der damalige FDP-Präsident Peter Amsler, der Stadtrat habe es verschlafen, beim Kanton Druck zu machen.Wieso ging es denn nicht vorwärts? Immerhin war schon 2012 eine Vernehmlassung über die Variantenwahl abgeschlossen, für die betroffenen Bauern hatte die Stadt vier Hektaren Realersatz gekauft und mit der kantonalen Tiefbauverwaltung war eine Machbarkeitsstudie durchgeführt worden. Doch ein Vorprojekt blieb aus. Warum?Der 2012 zum neuen Stadtpräsidenten gewählte Ruedi Mattle sagt, eine damals vorgenommene Analyse habe keine eindeutige Zweckmässigkeit der Ostumfahrung erkennen lassen, weshalb die Strasse mit B-Priorität ins kantonale Strassenbauprogramm aufgenommen – und somit zurückgestellt – worden sei. Das öffentlich klar mitgeteilte Ziel sei die A-prioritäre Aufnahme der Ostumfahrung ins 17. Strassenbauprogramm gewesen, was auch erreicht worden sei. Im Rahmen jenes Strassenbauprogramms wurde die Ostumfahrung zusammen mit dem kantonalen Tiefbauamt weiterentwickelt, in ein städtebauliches Konzept integriert, die Zweckmässigkeit beurteilt, die Umfahrungsstrasse im Agglomerationsprogramm regional verankert und – im letzten Herbst – der Mitwirkungsprozess gestartet. Zu guter Letzt plante die Stadt die Ostumfahrung sogar selbst, um Zeit zu gewinnen.Alles wächst, nur die Infrastruktur bleibt gleichNach dem Nein zum Planungskredit von 1,1 Mio. Franken stellt sich neuerlich die Frage: Und was nun? Die Industrie wächst stetig und zum Teil markant, in unmittelbarer Bahnhofnähe sind über achtzig Wohnungen geplant, ein weiterer Schub in ein paar Jahren ist absehbar. Dazu kommt mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2024 für Schnellzüge der Halbstundentakt. Das bedeutet noch längere Wartezeit an den Schranken. Als Nadja Hatheyer 1985 ihr erstes Auto kaufte, hatte dieses die Nummer 165'499. Heute wäre es eine Zahl über 400'000. Urs Dörig sagt, mit Blick auf die Entwicklung und Altstättens Bahnübergang: «Es ist ein Kollaps zu befürchten.»«Erhebliche Dringlichkeit»Kein Wunder, spricht Ruedi Mattle von einer «erheblichen Dringlichkeit». Nach dem Nein zum Planungskredit sei der Stadtrat zum Schluss gelangt, dass der Nutzen der Ostumfahrung grundsätzlich nicht bestritten, jedoch eine raschere Mitwirkung der Bevölkerung gewünscht sei. Der Stadtrat hat daher einen Nachtragskredit gesprochen. Er beläuft sich auf 95000 Franken (davon 65000 für den Mitwirkungsprozess und 30000 für die Kostenüberschreitung aus dem laufenden Prozess; der Kanton steuert ebenfalls 65000 Franken bei).Mitwirkungsprozess läuft weiterDer bereits angelaufene Mitwirkungsprozess lässt sich so-mit trotz des Neins zum Planungskredit weiterführen. Die 130000 Franken, die Stadt und Kanton sich teilen, beziehen sich aber nicht nur auf die Ostumfahrung, sondern betreffen den gesamten Prozess der Mitwirkung am Altstätter Masterplan «Frei/Raum», der anhand von Leitideen, Zielbildern und Schlüsselräumen zeigen soll, wie sich die Entwicklung der Stadt aktiv gestalten lässt.Mit Blick auf die Verkehrssituation bei der Bahnlinie tönt es von anderer (wirtschaftlicher) Seite geheimnisvoll so: «Es isch öppis im Tue.» Zweittext: Unterführung geprüft – und klar verneint
Nicht nur die Altstätter Ostumfahrung ist ein altes Thema, auch der Bau einer Strassenunterführung kam immer wieder zur Sprache.Vor der Zeit des amtierenden Stadtpräsidenten Ruedi Mattle, also vor 2013, hat der damalige Stadtrat intensiv über eine Unterführung beim «Grüntal» nachgedacht, auch Berechnungen wurden angestellt.[caption_left: Der Bau einer Unterführung wurde verneint, weil der Platz fehlt und durch sie der Verkehr im Siedlungsgebiet nicht abgenommen hätte.]Man gelangte aber zur Erkenntnis, dass es kaum möglich sei, eine Unterführung zu bauen. Das Problem bestand darin, dass die Befahrung mit Lastwagen eine stattliche Wannenlänge bedurft hätte und deshalb der Abriss von mindestens fünf Liegenschaften nötig gewesen wäre.Zudem spielte eine Rolle, dass der Verkehr ja nicht ins Zentrum, sondern aussen herum – auf einer Umfahrungsstrasse – geführt werden sollte. Schlimm wäre der Bau einer Unterführung fürs Restaurant Grüntal gewesen, das plötzlich nicht mehr an der Strasse gelegen hätte. (gb) Zweittext:Parkplätze nicht mehr zeitgemässDie Parkplätze, die sich beim Altstätter Bahnhof direkt vor dem Gebäude befinden, sind nicht mehr zeitgemäss. Wer mit dem Auto wegfährt, muss rückwärts auf die Strasse lenken.Vor allem, wenn ein links oder rechts abgestelltes Fahrzeug etwas grösser ist, mangelt es schnell an der nötigen Übersicht. Die Strasse wird von vielen Bussen befahren, auch Velofahrerinnen und Velofahrer sind hier zahlreich unterwegs, und immer wieder gehen Leute zu Fuss hinter den parkierten Autos vorbei. Vor allem frühmorgens, bei Dunkelheit und wenn es auch noch regnet oder schneit, ist grösste Vorsicht geboten.[caption_left: Vor allem frühmorgens, bei Dunkelheit, und speziell, wenn es schneit oder regnet, bergen die Parkplätze beim Bahnhof eine Gefahr, weil rückwärts auf die Strasse zu fahren ist.]Entlang von Staatsstrassen sind Parkplätze, die rückwärts fahrend verlassen werden, schon länger nicht mehr erwünscht. Auch für Gemeindestrassen gilt der Grundsatz mehr und mehr. Tatsächlich sollen auch die erwähnten Parkplätze beim Altstätter Bahnhof zum Thema werden. Die Stadt wird demnächst die Arealentwicklung Bahnhof ausschreiben. Vorrang habe die Entwicklung des Spitalareals, sagt Stadtpräsident Ruedi Mattle, aber auch beim Bahnhof wird sich in den nächsten Jahren etwas tun.