Die gebürtige Ukrainerin Iryna Saxer aus Lüchingen schaut auf ihr Handy und zeigt Bilder, die sie von ihrem Cousin und von Freundinnen aus ihrer Heimatstadt Tschernihiv erhält. Nach Raketenangriffen sind Rauchschwaden über einem Quartier zu sehen, wo Zivilisten leben. Ein Wohnblock und ein Supermarkt wurden beschädigt sowie ein Kindergarten, von dem nur noch eine Ruine übrig blieb. «Beim Angriff war er zum Glück leer», sagt sie.Die 47-Jährige verfolgt intensiv die Nachrichten und die Entwicklung der russischen Invasion. Was gerade passiert, liess sie in den letzten Nächten kaum schlafen. Freundinnen haben ihr zugesichert, jeden Morgen ein «Smiley» per Whatsapp zu schicken, wenn sie noch am Leben sind. Die Kommunikationskanäle sind vorläufig intakt.Unabhängigkeit ist in der Mentalität verwurzeltIryna Saxer lebt seit 15 Jahren in der Schweiz. Zu Beginn machte sie eine Erfahrung, die sie erstaunte. «Viele Leute hier dachten: Ukraine und Russland, das ist dasselbe.» Eine Annahme, die vom Staatengebilde der Sowjetunion stammen dürfte. Iryna Saxer betont aber die unterschiedliche Geschichte und Mentalität: «Das ukrainische Volk hat einen starken Unabhängigkeitsdrang.» Die Bereitschaft, dafür zu kämpfen, schildert Iryna Saxer anhand der Zivilisten, die sich mit Molotowcocktails verteidigen, die sie selbst hergestellt haben.In ihrer Familie lösen die Ereignisse eine gedrückte Stimmung aus. Die Ukrainerin ist verheiratet mit Obstbauer Erwin Saxer. Gemeinsam haben sie zwei Söhne. Der ältere, der 13 Jahre alt ist, wacht nachts vermehrt auf und stellt Fragen. «Ich erzähle einiges, aber nicht zu viel», sagt die Mutter. «Das ist zu brutal.» Die Menschen in ihrer Heimatstadt hätten Angst vor weiteren Angriffen und bewegen sich nicht zu weit weg von den Schutzräumen oder oft nur einfachen Kellerräumen. Ihre Eltern, die sie regelmässig in den Sommerferien mit Mann und Söhnen besuchte, sind vor zwei Jahren gestorben. «Sie müssen dieses Elend nicht mehr erleben», sagt Iryna Saxer.Streit und Beleidigungen im FreundeskreisMenschen aus der Ukraine, die im Rheintal leben, dürfen sich der Anteilnahme gewiss sein. Differenziert verhalten sich die Reaktionen gegenüber russischstämmigen Menschen. Tanja Sieber, die seit 2006 ebenfalls in Lüchingen wohnt, verheiratet und Mutter zweier Söhne im Teenageralter ist, schildert, was sie belastet: «Man erwartet von mir, dass ich mich schäme für mein Land.» In vielen Familien und in Freundeskreisen werde gestritten, sagt die Russin. Das dauert an seit 2014, als der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine begann. «Ich will niemanden beleidigen und versuche zu schweigen, wenn ich weiss, dass meine Meinung nicht akzeptiert wird.»Tanja Sieber bedauert die angespannten Verhältnisse zwischen Menschen aus Russland und der Ukraine in ihrem Umfeld. Wenn sie nicht klar und deutlich zur Ukraine stehe, löse das schräge Blicke aus. Ukrainische Bekannte nehmen Abstand. Auch in ihrer eigenen Familie hält sie sich dem Hausfrieden zuliebe zurück. Sie liest Nachrichten unterschiedlicher Quellen sowie in verschiedenen Sprachen und bezieht Informationen von Kolleginnen aus beiden Teilen der Ukraine.«Es ist für mich erstaunlich, wie inkonsequent die Haltung des Westens gegenüber dem Wert eines Menschenlebens ist.» Sie bittet an dieser Stelle zu erwähnen, dass die Gebiete Donezk und Luhansk die Unabhängigkeit wollten. Die Separatistenführer riefen Putin zur Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken auf. Es erschreckt Tanja Sieber, dass die ukrainische Seite nicht sofort akzeptierte, Friedensgespräche zu führen, sondern stattdessen zur Waffenlieferung aufruft und Ausländer wie Fremdenlegionäre ins Land einlädt. «Wenn man keinen Krieg will, sollte man die Gelegenheit ergreifen und den Krieg stoppen – von beiden Seiten.» Sie hofft auf ein rasches Ende des Krieges.Dass Russland nun bereits zahlreiche grosse Städte in der Ukraine angegriffen hat, damit sei eine Grenze überschritten worden. «Das ist schrecklich. Jetzt leidet das ganze Land.» Auch sie hat das Bedürfnis, helfen zu wollen. «Die Zivilisten und die Flüchtlinge sind zu unterstützen, aber auf keinen Fall die Armee.»