02.04.2021

«Es geht um Menschenleben»

Profirennfahrerin Jolanda Neff setzt sich für die Sicherheit von Velofahrerinnen und -fahrern im Strassenverkehr ein.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Am 13. Februar berichteten «Der Rheintaler» und «Rheintalische Volkszeitung» über einen Fall am Kreisgericht: Ein Chauffeur der Rheintal Bus AG (RTB) soll einen Velofahrer beim Überholen berührt und ihn so zu Fall gebracht haben. Profi-Mountainbikerin Jolanda Neff, die im Training oft mit dem Rennvelo in der Region unterwegs ist, machte darauf ein Video, das sie auf Instagram veröffentlichte. Inzwischen ist der Busfahrer in erster Instanz schuldig gesprochen worden (Ausgabe vom 30. März). Jolanda Neffs Botschaft im Instagram-Post: «Die Autofahrerinnen und Autofahrer müssen beim Überholen den Abstand von mindestens 1,5 Metern einhalten.» Der Mindestabstand beim Überholen ist gesetzlich nicht festgelegt, aber eineinhalb Meter entsprechen der aktuellen Rechtsprechung. Sie erlebe es täglich, dass sie um Zentimeter neben dem Lenker überholt werde. Je grösser das Fahrzeug, umso gefährlicher sind die Überholvorgänge. «Nicht nur mit den Bussen im Rheintal hatte ich schon bange Momente, auch in der ganzen übrigen Schweiz», sagt sie, «es gibt allerdings auch rücksichtsvolle Chauffeure. Man darf nicht alle in den gleichen Topf werfen.»«Abgetrennte Velowege wie in Holland und Belgien»«Ich habe auf diesen Instagram-Post viele Reaktionen bekommen», sagt die 28-Jährige. Darunter waren traurig stimmende wie der von einer Frau, deren Bruder beim Velofahren nach einem Unfall mit einem Auto gestorben ist. Aus Ländern wie der Niederlande, Belgien und Dänemark erhielt sie auch Antworten, wie man den Veloverkehr sicherer machen könnte: «Ich habe es beim Training in Holland schon selbst erlebt: Dort gibt es zu jeder Strasse einen asphaltierten Veloweg, der durch Hecken und Bäume oder einen Grünstreifen vom Autoverkehr getrennt ist – so macht das Training auf der Strasse richtig Spass.»Jolanda Neff wünscht sich, dass auch in der Schweiz die Verkehrswege für Autos und Velos konsequent entflechtet werden: «Weil es aber noch nicht so weit ist, müssen die Autofahrer umso aufmerksamer sein. Oft fehlt bei ihnen, den stärksten Verkehrsteilnehmenden, das Bewusstsein dafür, wie sich eine Velofahrerin fühlt, wenn sie knapp neben der Lenkstange überholt wird oder wenn jemand abbiegt, ohne das Velo zu beachten.» Ein Problem für viele Leute am Steuer sei es wohl, das Tempo des Velos richtig einzuschätzen: «Wenn ein Rennvelofahrer oder eines der schnellen E-Bikes innerorts mit 35 bis 40 km/h unterwegs ist und das Auto oder der Bus mit maximal 50 km/h, ergibt sich daraus ein langer Überholweg. Kommt dann Gegenverkehr, weichen die Überholer instinktiv näher zu den Radfahrern oder werden unsicher zwischen den Velofahrern und dem Ge- genverkehr.» So werde manchmal das Velo wohl unbewusst abgedrängt.Jolanda Neff fährt auch Auto: «Ich weiss, wie wichtig es ist, fokussiert zu fahren. Jedes Mal, wenn man ins Auto steigt, sollte man sich vornehmen, ganz achtsam und verantwortungsvoll zu fahren. Ein paar extra Minuten für den Weg einplanen, Rücksichtnahme und weniger Aggressivität. Mit viel Ruhe und Verständnis gegenüber Schulkindern, Menschen auf dem Arbeitsweg, Profisportlerinnen und -sportlern und einfach jedem Menschen auf einem Velo.» Denn das Velo sei gegenüber einem Auto immer schwächer.Viele Tücken des Rheintaler VelonetzesWo es keinen abgetrennten Veloweg gebe, sei ein Velostreifen zwar auch nicht ideal: «Aber er reduziert immerhin die Gefahr.» Gerade im Rheintal gibt es jedoch auf der Hauptstrasse viele Abschnitte ohne Velostreifen: «Wenn ich von St. Margrethen komme, endet der Velostreifen in Au plötzlich. Dort ist die Strasse eng und es gibt immer in beide Richtungen viel Autoverkehr: Eigentlich dürften Autos dort gar nicht überholen.»Dabei sei es nicht so, dass Velofahrer absichtlich auf der Hauptstrasse fahren: «Aber oft müssen wir diese Abschnitte ein Stück weit befahren, um auf einen Hügel oder auf den Fussgänger- und Veloweg am Rhein zu kommen.» Auch dieser Weg hat seine Tücken: Zwischen Kriessern und Montlingen führt er über eine Kiesstrasse: «Wenn ich mit dem Rennvelo trainiere, muss ich deshalb immer durch Kriessern fahren.»Das Velofahren in der Schweiz wird immer beliebter, Corona hat diese Tendenz nochmals deutlich verstärkt. Gemäss dem Verband der Schweizer Velolieferanten (Velo Suisse) wurden 2020 erstmals mehr als 500 000 Fahrräder und E-Bikes verkauft, 38 Prozent mehr als 2019. «Es hilft unserer Umwelt, wenn mehr Menschen aufs Velo umsteigen, es ist so gut für die Gesundheit von jedem Menschen, der Velo fährt und sich regelmässig bewegt – diese Punkte dürfen nicht zunichte gemacht werden aus lauter Egoismus und Unverständnis», sagt Jolanda Neff und appelliert: «Lasst uns alle zusammen ein angenehmes Klima auf der Strasse schaffen, in dem sich jeder Verkehrsteilnehmer jederzeit sicher und verstanden fühlt. Es geht um Menschenleben.» Mehr Sicherheit durchs Veloweggesetz?Guido Bielmann ist Sprecher des Bundesamts für Strassen (Astra). Er versteht, dass sich eine Profiradrennfahrerin wie Jolanda Neff im Schweizer Strassenverkehr unbehaglich fühlt. Das sei dem Umstand geschuldet, dass in der Schweiz pro Jahr 40 000 zusätzliche Motorfahrzeuge auf den Strassen unterwegs sind, derzeit sind 6,1 Millionen zugelassen. «Die Zunahme von Motorfahrzeugen liegt weniger an der stärkeren individuellen Motorisierung als daran, dass die Schweizer Bevölkerung in den letzten 13 Jahren um eine Million Menschen gewachsen ist.» Deutliche Zustimmung zum Velobeschluss im Jahr 2018Trotz des Mehrverkehrs bleibt die Zahl der Unfälle auf Schweizer Strassen konstant bei 53 000 bis 55 000. Die Zahl der Unfalltoten im Strassenverkehr ist  zwischen 1971 und 2019 gar von 1700 auf 187 gesunken. Im Jahr 2020 hat es erstmals wieder leicht mehr Tote (227) gegeben – möglicherweise wegen des Velobooms. «Die Statistik spricht dafür, dass die Menschen im Strassenverkehr aufmerksamer agieren als früher», sagt Bielmann.Am 23. September 2018 hat sich das Schweizer Stimmvolk mit einem Ja-Anteil von 73 Prozent in die Verfassung geschrieben, das Velo als Fortbewegungsmittel zu fördern. Der sogenannte Velobeschluss mündet im Veloweggesetz, das im letzten Jahr die Vernehmlassung hinter sich gebracht hat. Es ist allerdings noch nicht klar, ob der Bericht bereits in der Mai-Session vom Parlament beraten wird. Die Umsetzung des Gesetztes obliegt dem Kanton und den Gemeinden – abgesehen von 400 Kilometern Autostrassennetz, für das der Bund verantwortlich ist. Das Astra schreibt zum Ziel des Gesetzes: «Ein gutes Velowegnetz hilft, den Verkehr zu entflechten. Auto-, Velo- und Fussverkehr kommen sich so weniger ins Gehege. Dies hilft, Unfälle zu vermeiden. Ein zusammenhängendes, sicheres Velowegnetz trägt auch dazu bei, die Mobilität besser zu bewältigen.»Wenn das Gesetz gut umgesetzt wird, müsste es die Sicherheit der Velofahrerinnen und -fahrer erhöhen. Damit sich Jolanda Neff & Co. auf der Hauptstrasse bereits jetzt sicherer fühlen, wenn sie überholt werden, empfiehlt Astra-Sprecher den Autofahrerinen und -fahrern: «Wenn ich einen Velofahrer überhole, setze ich den Blinker, sobald ich ihn sehe und fahre nach links scharf an die Mittellinie – so können auch Menschen im Gegenverkehr, die den Velofahrer ja ebenfalls sehen, mein Vorhaben erkennen.»  (ys)

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