01.02.2019

Erzählungen aus dem Leben für Athleten

Der als Talententdecker bekannte Leichtathletik-Trainer Werner Dietrich präsentierte ein Puzzle zum Thema «Was es braucht, um Weltmeister zu werden». Die gebannten Zuschauer erfuhren auch, was diesem Ziel im Weg stehen kann. Es ist eine Menge.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Yves SolenthalerMit seinem Trainingsanzug und seinen listigen Augen wirkt Werner Dietrich wie ein gemütlicher Mittsechziger. Er sieht ein bisschen aus wie ein weisshaariger Peach Weber. Jedenfalls stellt man sich den Mann irgendwie ander vor, von dem der «Blick» geschrieben hat, er sei der Vater des Schweizer Leichtathletikwunders.Der Leistungssportchef von Swiss Athletics sagt über Dietrich: «Er ist ein Altachtundsechziger.» Was auch nicht ganz falsch ist: In jungen Jahren hat er sich in der GSoA engagiert. Sein einstiger Schützling Mirko Spada, der als Zehnkämpfer die 8000-Punkte-Grenze streifte, sagt gemäss «Neuer Zürcher Zeitung» über Dietrich: «Er ist ein Revoluzzer.»Als Selfmade-Trainer mit Günthör angefangenDer frühere Ingenieur machte Werner Günthör zum weltbesten Kugelstösser, er lockte Kariem Hussein vom Fussball zur Leichtathletik und formte ihn zum Weltklasse-Hürdenläufer, und er trainiert Junioren-Europameisterin und -Vizeweltmeisterin Yasmin Giger.An der Rheintaler Sportlerwahl betritt Dietrich die Bühne mit einer Pinnwand in der Hand. Darauf legt er in Form eines Puzz­les die wichtigsten Punkte auf, die einen Athleten exzellent machen. Die Puzzleteile stellen am Schluss Werner Günthör dar, den dreifachen Weltmeister im Kugelstossen.Günthör war der Anfang von Dietrichs Selfmade-Trainerkarriere. «Ich habe am Anfang vieles falsch gemacht, lag damit aber offenbar richtig», sagt Dietrich. Günthör war Kugelstösser im Kunstturner-Verein TV Huttwil. «Für das, was er machte, interessierte sich niemand im Verein», sagt Dietrich. Für ihn ist das eher ein Vorteil, viele Vereine würden ein viel zu grosses Buhei um ihre Talente machen: «Und vor allem erkennen sie oft nicht, wenn es Zeit ist, sie zu einer grösseren Organisation ziehen zu lassen, in der sie bessere Möglichkeiten haben.» Dadurch würden Talente eher verheizt als gefördert.Ein wichtiger Punkt auf dem Weg zum weltmeisterlichen Athleten stellt in Dietrichs Ausführungen die Familie dar. «Ohne Unterstützung der Eltern geht es nicht», sagt der erfahrene Trainer. Auch Günthörs Eltern hätten ihren Werner unterstützt: «Der Vater besuchte die Wettkämpfe, weil er gerne eine Wurst ass. Die Mutter, weil sie glücklich war, ihren Sohn mit einer Kugel im Ring zu sehen.»Zunehmend würden aber Eltern zu einem immer grösse­- ren Hindernis: Helikoptereltern und Goldmedaillenmütter, nennt Dietrich die Erzieher, die in ihrem Kind einerseits einen zukünftigen Weltmeister sehen, sie aber andererseits vor sportlichen Enttäuschungen bewahren wollen: «Wer mit Enttäuschungen nicht umgehen kann, eignet sich nicht für eine Spitzensport-Karriere.»Die Meinungen, die Dietrich äussert, sind sehr pointiert. Dass er damit beim Leichtathletikverband hie und da aneckt, verwundert nicht. «Die Verbände haben inzwischen erkannt, dass Kinder viel mehr polysportiv statt spezifisch trainiert werden müssten», sagt er. Die Umsetzung sei aber schwierig. Auch Sportschulen – Dietrich arbeitet selbst an der Elitesportschule NET in Kreuzlingen – sind von seiner Kritik nicht ausgenommen: «Früher war ich gegen Sportschulen – seit ich selbst an einer arbeite, natürlich nicht mehr», scherzt Dietrich. Heute sagt er: «Sportschulen wären gut, wenn sie die Schüler polysportiv statt in einer Disziplin förderten.» Am liebsten hätte er, wenn Kinder bis 15 Jahre nicht schon auf eine Disziplin festgelegt würden, es für sie gar keine Wettkämpfe in klassischen Disziplinen gäbe.Zu grosse Spezialisierung im JugendsportDie Kinder seien heute weniger kräftig als früher, deshalb sei vielfältiges Training umso wichtiger. Ins Wehklagen über die Jugendlichen stimmt Dietrich aber nicht ein: «Die Kinder von heute sind anständig, diszipliniert und können viel mehr als früher. Es ist in der Schweiz sogar eher so, dass sie für die Bedürfnisse des Spitzensports zu wenig frech sind.»Gegenüber seinen Athleten ist Dietrich eine Vaterfigur. «Er vermittelt den Athleten neben sportlichem Wissen auch Manieren», sagte sein früherer Schützling Spada der NZZ.«Der Athlet ist zu 80 Prozent selbst für seinen Erfolg verantwortlich», sagte Dietrich mal ein Vorarlberger Kugelstösser, «5 Prozent macht der Trainer aus und 15 Prozent hängen davon ab, dass der Trainer seinem Athleten nicht im Weg steht.» Er nehme für sich in Anspruch, diese 15 Prozent weitgehend zu erfüllen. «Der Trainer muss dem Athleten zuhören – nicht umgekehrt.» Für ihn sei das Gespür stets wichtiger als das Einhalten des Trainingstags: «Einer braucht mal einen Tritt in den Hintern, ein anderer eher mal eine Trainingseinheit weniger.»Das Zuhören gelernt, habe er früher bei der Arbeit im Umgang mit Motoren: «Bei ihnen muss man auch horchen.»Aber er müsse mit den Sportlern mehr reden als früher: «Sie glauben den Unfug, den sie über Social Media empfangen», sagt er. Davon müsse er als Trainer sie abhalten.Der letzte Teil in Dietrichs Erfolgspuzzle ist die Leidenschaft: «Ohne diese geht es nicht – sowohl beim Athleten als auch beim Trainer.» Sogar für seine Kritiker ist Leidenschaft ein Alleinstellungsmerkmal von Dietrich: Er steht nicht nur zweimal pro Woche auf dem Platz, er lebt rund um die Uhr für den Sport. Dietrich ist verheiratet – er weiss, dass dieses Engagement schwer mit familiären und beruflichen Verpflichtungen in Einklang zu bringen ist: «Trainertypen, wie ich einer bin, sterben aus.»

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