04.12.2021

Erste Bilanz zum Gesundheitszentrum

Vor fünf Monaten wurde das Spital Appenzell geschlossen. Am ehemaligen Standort entstanden neue medizinische Angebote. Die Standeskommission zeigt sich zufrieden, doch es gibt auch kritische Stimmen.

Von Selina Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
Selina SchmidSeit dem 1. Juli hat Appenzell Innerrhoden kein Spital mehr. Mit dem Volksentscheid vom 9. Mai wurde auf den Bau des neuen Spitals (AVZ+) verzichtet. Und mit der Kündigung des Zusammenarbeitsvertrages im Bereich Innere Medizin durch den Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden (Svar) wurde die stationäre Abteilung geschlossen. Stattdessen nahm der Kanton das Gesundheitszentrum Appenzell in Betrieb. Die Stärke des Zentrums ist die Kurz- und Übergangspflege (KÜP). Die KÜP bietet sechs Betten für Menschen mit vorübergehend erhöhtem Pflegebedarf, beispielsweise wenn sie sich von einer Operation oder einem Unfall erholen. Eine zufriedenstellende NischeRoman Hörler ist Hausarzt in Appenzell. Er war gegen das Projekt AVZ+. Er sagt: «Für die hiesigen Bedürfnisse war es übertrieben.» Das pflegeorientierte Angebot des Gesundheitszentrums sei dagegen in vielen Situationen, etwa für die ältere Bevölkerung, optimal. Hörler sagt: «Die Patienten können in der Nähe bleiben und für die Angehörigen ist der Besuch einfach.»Vorsteherin des Gesundheits- und Sozialdepartements, Monika Rüegg Bless, sagt: «Die KÜP ist sehr gut angelaufen. Sie schliesst eine Versorgungslücke sowohl von Seiten der Hausärzte als auch von Seiten der Akutspitäler in der Region.» Alle sechs Betten seien zurzeit belegt, sagt Luzia Inauen-Dörig, Präsidentin der Gesundheitskommission des Grossen Rats. «Wir haben hier ein Angebot gefunden, mit dem wir arbeiten können.»Für grössere Operationen müssen Innerrhoderinnen und Innerrhoder in das Spital Herisau oder das Spital St. Gallen ausweichen. Die ambulante Versorgung bleibt bestehen und kleinere Operationen können weiterhin in Appenzell durchgeführt werden. Im ambulanten Bereich seien die Finanzen eine Herausforderung, so Rüegg Bless. «Aber damit steht das Gesundheitszentrum Appenzell nicht allein. Mit den tiefen ambulanten Tarifen sind alle Gesundheitsversorger konfrontiert.» Karl-Theo Vinzent ist Hausarzt und Onkologe in Appenzell, vor der Spitalschliessung war er einer der Belegärzte. Auch er schätzt die Möglichkeit, Patienten der Kurzzeitpflege und Palliativbehandlung im Gesundheitszentrum übergeben zu können. Zur Beobachtung nach St. GallenEs käme aber vor, dass die KÜP keine freien Betten mehr hat. «Ein Pflegenotfall ist auch ein Notfall, nur können hier die umliegenden Spitäler kaum helfen.» Überhaupt fehle die stationäre Behandlung des Spitals. «Ich kann nur akut behandeln. Für manche Patientinnen und Patienten ist eine Beobachtung während einiger Stunden oder über Nacht notwendig, wofür sie nun nach St. Gallen oder Herisau müssen.» Dabei handle es sich nicht um schwere Fälle. Vinzent nennt etwa Blutdruckkontrollen oder Infusionen – Fälle, in welchen man durch die Verlaufskontrolle sicherstellt, dass die Patientin oder der Patient wieder nach Hause kann. Vinzent sagt: «Einen kleinen Teil kann ich in der Praxis auffangen, doch ausserhalb der regulären Praxiszeiten ist das nicht mehr möglich.»Für Notfälle müssen Innerrhoderinnen und Innerrhoder neu in die Nachbarkantone. Auf der ehemaligen Notfallstation wurden 2019 pro Tag durchschnittlich rund fünf Notfälle versorgt, 2020 waren es noch drei pro Tag. Monika Rüegg Bless sagt: «Für die betroffenen Personen ist es ein Verlust, dass sie für eine dringliche Behandlung unter Umständen einen etwas weiteren Weg auf sich nehmen müssen. Die Notfallversorgung ist jedoch nach wie vor gut gewährleistet.»Hausarzt Roman Hörler ist zufrieden mit der kantonalen Notfallversorgung. «Die Patienten werden durch die Hausärzte in Appenzell und andere Spitäler in der Umgebung aufgefangen. Für unseren Kanton braucht es keine eigene Notfallstation.» Es gibt die hausärztliche Notfallversorgung, das kantonale Notruftelefon und für schwere Notfälle betreibt der Rettungsdienst eine Station in Appenzell. Der Betrieb laufe gut, sagt Rüegg Bless. Seit Juli sei die Nachfrage nach dem Rettungsdienst mit fünf Prozent leicht gestiegen. Luzia Inauen-Dörig sagt: «Nur weil wir kein Spital haben, verblutet uns niemand.» Doch sie räumt ein: «Ich weiss, dass andere Notfallstationen umso mehr Andrang haben.» Gerade Herisau leide darunter, dass neben Appenzell auch das Spital Flawil kürzlich geschlossen wurde.Im Notfall ans TelefonDas kantonale Notruftelefon wird durch den Schweizer Telemedizin-Anbieter Medgate betrieben. Pro Monat gehen zwischen 40 und 50 Anrufe ein. Laut Rüegg Bless war es für Medgate zu Beginn vereinzelt schwierig, die Patientinnen und Patienten einem geeigneten Leistungserbringer zuzuweisen. Man habe die internen Abläufe entsprechend angepasst. «In den letzten Wochen haben wir keine Reklamationen mehr erhalten.» Unternehmenssprecherin Céline Klauser sagt, die ersten Erfahrungen seien durchweg positiv. Medgate führe stichprobenartige Zufriedenheitsumfragen bei den Patientinnen und Patienten durch. Bei rund zwei Drittel aller Anrufe handelt es sich um medizinische Fragen, beim Rest um administrative Fragen zur Notfallversorgung.Rund 40 Prozent würden an eine Notfallstation weiterverwiesen werden, so Klauser. Bei zehn Prozent rät Medgate zu einer ärztlichen Konsultation innert sechs Stunden. Ein Drittel der Patientinnen und Patienten könne am Telefon abschliessend beraten und behandelt werden, sodass kein weiterer Arztbesuch notwendig ist. Céline Klauser sagt: «Vor allem nachts und am Wochenende ist das ein grosser Mehrwert.»300 Stellenprozent wurden gekündigtAuch das Personal des ehemaligen Spitals Appenzell ist betroffen. Monika Rüegg Bless sagt: «Eine Neuausrichtung dieser Art führt bedauerlicherweise immer zu Kündigungen, entweder durch den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer.»Einige Mitarbeitenden, insbesondere jene im stationären Bereich und auf der Notfallstation, hätten bereits in der ersten Hälfte 2021 die Stelle gewechselt. Laut Rüegg Bless sahen spezialisierte Fachkräfte für sich selbst keine beruflichen Perspektiven ohne stationäres Angebot im Gesundheitszentrum. «Den Austritten stehen auch Eintritte gegenüber, denn gerade die KÜP bietet für Pflegefachkräfte neue, interessante Perspektiven.» Einige Pflegefachkräfte hätten intern zu einer der drei Altersinstitutionen des Kantons gewechselt. Gekündigt wurden effektiv knapp unter 300 Stellenprozent, sagt Rüegg Bless. Hier kam der Sozialplan zum Zuge, welchen der Kanton vorsorglich bereits im Februar ankündigte. Der Sozialplan enthielt Leistungen zur Abfederung der finanziellen Konsequenzen einer Kündigung und Unterstützungsmassnahmen bei der Stellensuche.Monika Rüegg Bless sagt: «2021 war für das Personal ein speziell forderndes Jahr. Einerseits mit der Transformation hin zum Gesundheitszentrum, andererseits durch die Covid-19-Pandemie.»Unterm Strich spart der KantonDurch die Schliessung des Spitals dürfte der Kanton unter dem Strich leicht sparen. Im Voranschlag, welcher am kommenden Montag im Grossen Rat beraten wird, geht der Kanton von einer Ersparnis von rund einer halben Million Franken aus. Die Kosten für die ausserkantonalen Hospitalisationen steigen verglichen zum Vorjahr um rund 16 Prozent auf gut 13 Millionen Franken. Dafür gehen die innerkantonalen Hospitalisationen auf eine Million zurück. Monika Rüegg Bless sagt, das Projekt Gesundheitszentrum laufe für drei Jahre und werde dann evaluiert. Die Finanzierung im Regelbetrieb nach der Pilotphase befinde sich in Verhandlung. Eine vertiefte Bilanz soll nach einem Jahr gezogen werden.

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