05.02.2021

«Erreichtes ist nicht ewig gültig»

50 Jahre Frauenstimmrecht – aber noch lange ist nicht alles gut, findet die langjährige Politikerin Paola Höchner.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Hildegard BickelEs ist verblüffend, was in alten Zeitungsausschnitten und auf Flugblättern steht, die Paola Höchner, ehemalige Rheinecker Schulrätin und SP-Kantonsrätin, aus einem Ordner holt. «E kli meh Fraue mögt’s langsam liide», war eine Parole bei Kantonsratswahlen in den 80er-Jahren. «Ausserfamiliäre Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Wieder- und Neueinstiege in Beruf und Politik», dieser Schwerpunkt prägte Ostschweizer Frauenforen 1996. Die Forderungen von damals scheinen identisch mit jenen von heute. Hat sich denn nicht mehr getan mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und dem Kampf in den vergangenen Jahrzehnten für mehr Gleichstellung? «Doch», meint Paola Höchner. «Frauen sind präsenter, vor allem in der Politik.» Die Stellung der Frau irritierte In allen europäischen Ländern wurde das Frauenstimmrecht nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg eingeführt. Für Paola Höchner, geboren 1949 in Parma, Italien, war es selbstverständlich, als junge erwachsene Frau wählen zu können. Italien führte das Frauenstimmrecht 1946 ein. Die ausgebildete Ärztin folgte 1974 ihrem künftigen Mann in die Schweiz, heiratete und wurde Mutter von drei Kindern. «Ich habe nicht realisiert, dass das Wahlrecht hier noch so jung ist.» Ihr politisches Interesse lebte sie aktiv aus, wählte, stimmte ab und trat bald der SP Rheineck bei und nahm teil an Bürger- und Ortsbürgerversammlungen. Eine wichtige Erfahrung zum Diskutieren, Anträge stellen und direkte Demokratie erleben, sagt sie. Mit den gefassten Beschlüssen hingegen sei sie nicht immer einverstanden gewesen. Was Paola Höchner irritierte, war die gesellschaftliche Stellung der Frau. Dass Mütter mit ihren Kindern zu Hause sind, wurde vorausgesetzt, es gab keine Betreuungsmöglichkeiten. Damit sie dennoch Teilzeit arbeiten konnte – sie war viele Jahre tätig bei der Beratungsstelle für Familienplanung, Schwangerschaft und Sexualität in St. Gallen –, wechselte sie sich ab beim Kinderhüten mit einer Kollegin und durfte auf die Hilfe der Schwiegermutter zählen. Wie mit dem Wahlrecht umgehen?Bewegung in die Frauenförderung kam in den 1980er-Jahren. Frauen organisierten sich, behaupteten sich je länger je mehr und unterstützten sich gegenseitig. Paola Höchner sagt: «Die Frauen mussten zuerst lernen, wie sie mit dem Wahlrecht in der von Männern dominierten Politik umgehen sollen.» Als eine Zeit voller Energie beschreibt sie die 1990er-Jahre. Frauenforen entstanden über Parteigrenzen hinweg, das Frauenforum Rheintal, das seinen Ursprung im Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991 hat, besteht bis heute. Paola Höchner wurde 1988 in den Schulrat Rheineck gewählt und vier Jahre später für die SP in den Kantonsrat. «Wir waren zehn Frauen, die neu in der SP- Fraktion vertreten waren, davor waren es nur zwei.»Obwohl sich gut ausgebildete Frauen in politischen Anliegen hervortaten, wurden sie oft weggedrückt. Deren Engagement sei von Männern nicht immer geschätzt gewesen, so die Erfahrung von Paola Höchner. Wer Macht innehabe, wolle sie nicht einfach so abgeben. Offenen Widerstand konnten sich die Männer aber nicht leisten. «Sie zeigten Skepsis, indem sie zum Beispiel Äusserungen von Frauen ins Lächerliche zogen.» Zwar waren Abstimmungen immer noch konservativ dominiert, doch ein Wandel machte sich bemerkbar. Dadurch, dass Frauen eine andere Haltung zu bestimmten Vorlagen äusserten und dies an der Urne kundtaten. Weiterkämpfen für andere Lebensmodelle«Wofür sollen wir heute noch kämpfen?», fragen sich manche junge Frauen von heute. Spätestens, wenn sie eine Familie gründen möchten, dürfte es ihnen bewusst werden. Die grösste Baustelle nebst Lohngleichheit, Respekt statt Sexismus und bezahlter Betreuungsarbeit ist nach wie vor die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kinderbetreuung darf nicht als Notlösung angesehen werden, sie gehört zu einem Lebensstil, sagt Paola Höchner. «Wir reden immer noch wie früher, das ist das Problem.» Deswegen sei sie aber nicht ernüchtert. Was zwischenzeitlich erreicht wurde, könne nicht als ewig gültig angesehen werden. Es brauche Durchhaltewillen, um an den Forderungen nach Gleichstellung dranzubleiben. «Es findet eine Entwicklung statt, aber nicht so schnell wie erwünscht.» Wenn sie ihre eigene Mutterschaft und jene ihrer Tochter heute vergleiche, habe sich dennoch viel verändert. Die Tochter sei berufstätig, ihre Kinder sind an die Kita gewöhnt. Der Mann kümmert sich einen Tag die Woche um die Kinder. Die Grosseltern sind ebenfalls in die Betreuung eingebunden. Sie freut sich, dass dies möglich geworden ist. «Nicht alle Familien wünschen es sich so, aber es ist wichtig, eine Wahl zu haben.» Paola Höchner spricht von verschiedenen Lebensphasen-Modellen. Sie bemerkt nämlich auch eine Art Heimweh nach Geborgenheit, nach einer Welt von früher. Die Mutterliebe und einen aufgeräumten Haushalt idealisiert. Bilder eines solchen Ideals flackern auch bei heutigen Generationen auf, wenngleich nicht mit der gleichen Stärke wie früher. «Was man selber erlebt hat, prägt.» Hinzu komme eine gesellschaftliche Tendenz in Richtung Rückzug in die Individualität.Signale der Veränderung in der RegierungPaola Höchner möchte aber auch betonen, dass in der Poli-tik Veränderungen stattfinden. «Ich habe mich sehr über die Wahl von Laura Bucher gefreut. Dass die Bevölkerung des ziemlich konservativen Kantons St. Gallen einer Mutter von kleinen Kindern die Regierungsverantwortung zutraut, ist ein ermutigendes Signal.»Ihr Wunsch zu «50 Jahre Frauenstimmrecht» ist mehr politisches Engagement. «Es wäre schön zu wissen, wie man mehr Menschen – Frauen und Männer – zum Abstimmen und Wählen bewegen könnte.» Auch Frauenstreiks wie 2019 und 2020 seien wichtig. «Es gibt Energie und ist lustvoll, wenn man zusammenkommt und gemeinsam versucht, Veränderungen zu bewirken, die unser Leben verbessern.» HinweisDie aktuellen Corona-Massnahmen lassen es nicht zu, Feierlichkeiten im Rahmen «50 Jahre Frauenstimmrecht» zu veranstalten. Das Frauenforum Rheintal und die SP Rheintal verzichten auf Ankündigungen.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.