Gert BrudererIm Leben des 66-jährigen Totengräbers ist der Tod so gegenwärtig wie ein Möbelstück. Auch seinen fünf erwachsenen Töchtern und dem Sohn, einem Fussballer beim FC Montlingen, ist der Tod nicht fremd. «För üs isch da ganz normal gsi», sagt Heidi Kühne, und ihr Vater fügt hinzu: «Wenn ‘s Telefon gschället hät, han i springe müese.» Seine Kinder hätten öfter gefragt, ob sie mitkommen dürften, was der Vater bejahte. Tochter Maria half später, als Erwachsene, beim Einsargen, ebenso sprang Bea ihrem Vater dann und wann zur Seite.«Chomm, betted mer doch no»Natürlich erfordert der Nebenberuf des gelernten Gärtners, der seit dem Sommer 2017 pensioniert ist und nur noch aushilfsweise Verstorbenen den letzten Dienst erweist, grosses Einfühlungsvermögen. Begegnet Herbert Kühne trauernden Angehörigen, sind nicht nur die eigenen Worte richtungsweisend, sondern mehr noch die der Trauernden. Was sie sagen, bereitet den Weg für die Begleitung durch Herbert Kühne, der zu einem völlig aufgelösten Menschen sagen kann: «Chomm, betted mer doch no a Vaterunser mitenand.»Auch an Verstorbene wendet Herbert Kühne sich zuweilen. Früher, wenn er Tote mit dem Leichenwagen in ihr Heimatland kutschierte, nach Italien, ins ehemalige Jugoslawien, nach Deutschland, waren das nicht zwingend Stunden permanenten Schweigens. Oder wenn er jemanden persönlich kannte, fiel vielleicht ein Satz wie dieser: «Herrgott, Karl, chönntsch achli schöner herihebe.»Wenn Herbert Kühne solche Sätze sagt, klingen sie liebevoll. Man kann auch sagen, pastoral. Das hat vielleicht damit zu tun, dass Herbert Kühne als Bestatter wirklich alles macht, was auf dem Weg zur letzten Ruhestätte nötig ist. Zum Beispiel kümmert er sich um die Abdankung mit Sarg und die zumeist am darauffolgenden Samstag stattfindende Urnenbeisetzung direkt beim Grab – und dies mit einer Passion, die immer auch den Schmerz des Abschiednehmens lindert.Hat jemand die Konfession aufgegeben, schlüpft der Bestatter sogar in die Rolle des Seelsorgers, indem er dem Verstorbenen und seinen Lieben einen würdevollen Rahmen schafft – nachdem er den beizusetzenden Menschen abgeholt, eingesargt, zum Friedhof gebracht sowie den Blumenschmuck bereitgestellt hat.Viele Tote auf der AutostrasseDen Tod hatte der Montlinger einst vor der Haustür. Nach seinen Kinder- und Jugendjahren am Gehrenweg lebte er beim Zapfenbach, wenige Schritte von der N13 entfernt, der damals so genannten Todesstrecke.«Wenn mol ka Auto meh gfahre sind, häsch wieder tänkt: oha lätz», sagt Herbert Kühne. Bevor die N13 zur Autobahn ausgebaut wurde, geschahen hier viele Unfälle. Sicher dreissig Tote hatte der Bestatter abzuholen, mit seinem entsprechend eingerichteten Auto.Einmal verloren bei einem Unfall ein Mann und sein drei- oder vierjähriges Kind das Leben. Zum Unfallort fuhr Herbert Kühne mit dem Vater. Dieser half ihm, den Mann einzusargen, brachte das aber beim Kind nicht fertig. Es hatte wohl damit zu tun, dass seine Tochter einst im Baggersee ertrunken war, die Schwester Herbert Kühnes, dreizehnjährig.Dem Bestatter macht der Tod von Kindern ebenfalls zu schaffen, und auch sonst ist manches hart. So trug er nicht nur Liselotte, die an Krebs erkrankte Mutter seiner Kinder, vor zwanzig Jahren selbst zu Grabe, sondern ebenso die Eltern und den Schwiegervater.Zu seinem Totengräber- Job zufällig gekommenZuständig war Herbert Kühne von Anfang an für die Dörfer Montlingen, Eichenwies, Kriessern. Weil er in jungen Jahren in einer Baumschule arbeitete, konnte er zwischendurch gut seiner Nebenbeschäftigung nachkommen, wann immer es nötig war.Besonders viel hatte er im Jahr 1988 zu tun. Allein in Montlingen seien in jenem Jahr über dreissig Menschen gestorben, sieben in der gleichen Woche, lauter Erdbestattungen, sagt Kühne, der die Gräber damals noch von Hand aushob. Heute sind vier Fünftel Urnenbeisetzungen.Zu seinem Totengräber-Job war Herbert Kühne durch Zufall gekommen. Als er mit seinem Vorgänger zusammensass und dieser vom Tisch weg zu einem verstorbenen Menschen gerufen wurde, war kein Helfer zu erreichen. Herbert Kühne war sofort bereit, in die Bresche zu springen – und begegnete «seinem» ersten Toten. Es war ein älterer Herr, der in Montlingen wohnte.Leichenzüge mussten von der StrasseIn den Achtzigerjahren bat der damalige Gemeindepräsident und spätere Regierungsrat Alex Oberholzer den Bestatter zu sich. Oberholzer gab ihm zu verstehen, dass die Leichenzüge von der Strasse zu verschwinden hätten, denn sie seien nicht mehr zeitgemäss. Herbert Kühne legte sich den ersten Leichenwagen zu und war fortan mit diesem unterwegs. Inzwischen waren Leichenhallen gebaut worden (die erste in Oberriet, dann auch je eine in Montlingen und Kriessern), sodass die Verstorbenen am Tag ihrer Beerdigung nicht länger von den Trauernden vom Wohnhaus zum Friedhof begleitet wurden.Als wichtige Errungenschaft in der Bestattungsbranche schätzt Herbert Kühne verschliessbare Bahren. Sie haben die Särge ersetzt und erleichtern die Arbeit, ausserdem ist ihr Anblick vielleicht ein Spürchen weniger beklemmend. Herbert Kühne besitzt drei Modelle – ein graues, besonders gut abwaschbares verwendete er für die Bahnunfälle. Mindestens ein Dutzend seien es im Lauf der Zeit gewesen, «wenn’s gad langet». Was er da gesehen habe, sei nichts, was man sehen wolle, sagt er ernst.Ab 1994 Konkurrent der MutterHerbert Kühnes Vater besass eine Baumschule, die Mutter betrieb einen Blumenladen. Indem der Bestatter 1994 eine Gärtnerei erwarb – jetzt lacht er – sind er und die Mutter «fascht echli Konkurrente gsi». Kühne spezialisierte sich auf Polsterpflanzen und Kleingehölz, beschäftigte zwei Festangestellte und Aushilfen. Bis zur Jahrtausendwende wirkte er während 25 Jahren als Präsident im Kantonalverband der Bestatter.Wie die Zeit sich wandelt, sieht man auch an den Trauerkränzen. Anders als früher kämen sie kaum noch vor, bevorzugt würden heute Schalen, auch Rosenherzen seien gebräuchlich.Sonntags fährt Herbert Kühne immer ins süddeutsche Wigratzbad, zum Gottesdienst. Er ist katholisch. In den letzten Jahren hat er eine Krebserkrankung überstanden, die ihn heute lächelnd sagen lässt: «Sie händ mer gholfe.» Wer genau, muss niemand wissen. Doch wie er es sagt, führt zur Vermutung, eine Macht, die nicht von hier ist, könnte hinter der Genesung stecken.