22.06.2018

Er forderte seine Leser

Andreas Schwendener war im Dorf der Pfarrerssohn. Auf spirituelle Reisen in Asien erkannte er, er wollte selbst Pfarrer sein. 1995 wurde er Chefredaktor des «Kirchenboten». Im Februar gab er die Verantwortung ab.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Monika von der LindenAndreas Schwendener schaut aus dem Fenster der Redaktion auf die Rebberge und erblickt den Tigelberg oberhalb Bernecks. Sofort ist ihm seine Kinder- und Jugendzeit präsent: «Dort habe ich zu Weihnachten Lieder singen dürfen.»Er war der vierte von fünf Buben und einem Mädchen. Das Zuhause der Familie war das evangelische Pfarrhaus. Vater Ulrich war der Pfarrer. Als Konfirmand bemerkte Andreas Schwendener im Dorf revolutionäre Tendenzen, die aus der 68er-Bewegung genährt waren. Der Vater gab sich modern, hatte einen Filmapparat und unterrichtete das neue Fach Sexualkunde. «Damals kam eine erste Kirchenkritik über die Leute.» Der Jugendliche lernte die Schönheiten und die Schwierigkeiten des Pfarrerberufes kennen. Es gefiel ihm, wie er über den Vater mit vielen Menschen in Beziehung trat, erkannte aber auch die Spannung zwischen Tradition und Moderne. Der Pfarrer war ihr als Repräsentant der Kirche ausgesetzt.Sehnsucht zieht weg und wieder zurückLängst ist Andreas Schwendener selbst Pfarrer. Als er bereit war, das Theologiestudium aufzunehmen, war er bereits 28 Jahre alt. Als ob er sich seine Berufung hätte bestätigen lassen wollen, verbrachte er einige Jahre im In- und Ausland, lernte fremdartige Kulturen kennen, sie und ihre Eigenheiten verstehen. Oft war er in Assisi in einem Frauenkloster zu Gast. Zur Zeit der Hippies bereiste er zweieinhalb Jahre lang Indien und setzte sich mit mehreren Religionen auseinander. In Istanbul traf er einen Muslim, der ihm ein einfühlsamer Lehrer des Islams war.Bald gewann der gebürtige Toggenburger die Erkenntnis, der westlichen Kultur anzugehören. «Alles was ich in Asien suchte, fand ich auch hier.» Bei ihm machte sich die Sehnsucht breit, ein fundiertes Theologiestudium zu absolvieren. Seinen Jugendtraum, Lehrer zu werden, legte er beiseite und studierte acht Jahre lang die Lehre der evangelisch-reformierten Kirche. «Unsere Kirche ist nicht mehr so spirituell, wie sie einmal wahr», sagt er, «die reformierte noch weniger als die katholische.» Ihr Machtgefälle sei schwächer geworden und die Zusammenarbeit von Staat und Kirche ausgewogen.Als 35-Jähriger übernahm Andreas Schwendener sein erstes Pfarramt in Bütschwil-Mosnang. «Ich lernte viele gestrandete Leute kennen, kannte alle Junkies aus dem Toggenburg.» Randständige fühlten sich von ihm angezogen. Sein Wirken in der offenen Strafanstalt Bitzi trug sicher dazu bei. Er sah das Elend am Platzspitz in Zürich. Es waren Menschen, die die Intensität des Lebens suchten – Aussteiger.«Ich verstand mich ein wenig als Exot, wollte mich nicht in alle Normen der Gesellschaft fügen und provozierte gern.» So spazierte der Pfarrer manchmal barfuss mit einem Tamburin singend durchs Dorf.Schrittweise Verantwortung für den «Kirchenboten»Als Ende der 80er-Jahre Pfarrer Niklaus Gäumann (Pfarrer in Balg­ach von 1974 bis 1989) Chefredaktor des «Kirchenboten» war, entsandte die Vorsynode Toggenburg Andreas Schwendener in die Redaktionskommission. Das neunköpfige Gremium produziert die Zeitschrift zwar nicht, redet aber mit. Als Niklaus Gäumann 1994 überraschend starb, besetzten Almuth Helen Graf und An­dreas Schwendener die Redaktion interimistisch. Im Sommer 1995 wählte ihn die Kommission in «die verantwortungsvolle Position». Er habe sich mit dem 70000-fach gedruckten «Kirchenboten» identifiziert. «Jeder sieht, wie gut oder schlecht eine Ausgabe ist. Mehr als bei einem Pfarrer, der im Stillen arbeitet.»Nach einem Jahr beschloss die Redaktionskommission An­dreas Schwendeners Kündigung. Der Kirchenrat nahm den Vorschlag nicht an. Andreas Schwendener blieb Chefredaktor – bis im Februar dieses Jahres. Die Kritik an ihm war immer lauter geworden. Die Oktoberausgabe 2014 des «Kirchenboten» widmete er dem Propheten Mohammed. «Diese Nummer löste einiges aus.» Rechtspopulisten wandten sich an den Kirchenrat, diese «schreckliche Religion» dürfe nicht so positiv dargestellt werden. «Es ist wichtig, dass Muslime einen echten Respekt von uns erfahren. Wenn nur von den Schattenseiten des Islams die Rede ist, denken Muslime, dass es niemanden interessiert, auf welche Art sie mit Gott unterwegs sind.» Folglich suchen sie ihresgleichen, es bilden sich Gettos. «Es stünde unserer Kirche gut an, sich mit dem menschlichen Suchen und Ringen zu befassen und es zu würdigen.» Er wolle nichts verherrlichen, aber die Leser fordern, theologische Perspektiven von Grund auf zu hinterfragen. Als zu anspruchsvoll kritisierte die Redaktionskommission auch die Bildauswahl des Chefredaktors. Nach der Ausgabe zu Adam und Eva im Januar 2015 verbot das Gremium ihm, mit Künst­- lern zusammenzuarbeiten. Bilder mussten fortan bewilligt werden.Nicht mehr Chefredaktor, mehr GefängnisseelsorgerSchliesslich eskalierte im Februar dieses Jahres der Konflikt. Meinungsverschiedenheiten über die Bildauswahl in der Ausgabe über den Teufel machten dem Redaktor zu schaffen. «Ich litt so sehr unter dem Entzug der Kompetenzen, dass ich krank wurde.»Heute geht es Andreas Schwendener gesundheitlich besser. Er hat mit der Kirchenleitung eine stimmige Lösung gefunden. Bis zur Pensionierung im Juni 2019 bearbeitet er das Archiv des «Kirchenboten» und erweitert sein Pensum als Gefängnisseelsorger, ist der aktuellen Ausgabe des «Kirchenboten» zu entnehmen.Zusätzlich zu den Inhaftierten im Regionalgefängnis in Altstätten und Ausschaffungsgefängnis Widnau betreut er seit Juni jene in der Strafanstalt Saxerriet. Dort knüpft er an seine Erfahrungen an, die er als junger Pfarrer im Toggenburg machte.Andreas Schwendener findet, dass ein Mensch nicht religiös sein muss. Die Probleme der Menschen im Gefängnis haben meist mit Drogen, Armut, Liebe, Sex und Eifersucht zu tun, egal welcher Religion sie angehören. «Eine Religion bestimmt nur 5 Prozent eines gläubigen Menschen, 95 Prozent machen das Menschsein an sich aus.»

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