28.06.2021

Einst Chef in vier Kantonen

Der ehemalige Kantonschemiker Roger Biedermann ist «uralt», erklimmt aber immer noch jährlich den Säntis.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Das Adjektiv uralt gebraucht er selbst, in Kombination mit der Bezeichnung Dinosaurier. Wie aus der Zeit gefallen wirkt der 81-Jährige tatsächlich, mit stets umgebundenem Halstuch und Béret. Schon der Vater hatte immer eines auf, der 94 Jahre alt gewordene Carl Biedermann, ein Banker und eher klein gewachsener Mann, Skifahrer bis 88.Sohn Roger, eher gross gewachsener Coucousin des Grünen-Kantonsrats und früheren Stadtrats Meinrad Gschwend, ist dem Vater dankbar für sein liberales Denken. So konnte Roger Biedermann, nachdem er zweieinhalb Jahre als Kantonsschüler zwischen Altstätten und St.Gallen gependelt war, ins Schülerhaus einziehen, ein liberales Internat.Willy Brandt: Er «tei üs jetz gad e Mitteilig mache»Er selbst, «en halbe Achtesechzger», fand zur SP, obschon ihm immer daran lag, eine vermittelnde Position einzunehmen. Sicher war er nicht der Revoluzzer, aber innerhalb der Sozialdemokratischen Partei betätigte er sich während einiger Zeit in der Geschäftsleitung der SP Schweiz.Bei einem Besuch in Bonn, zusammen mit dem langjährigen Parteipräsidenten Helmut Hubacher, kam es 1986 zu einer Begegnung mit dem SPD-Parteivorsitzenden Willy Brandt, der von 1969 bis 1974 deutscher Bundeskanzler gewesen war. Roger Biedermann erinnert sich, wie Brandt den Raum betreten und gemeint habe, «er tei üs jetz gad e Mitteilig mache, Tschernobyl seg i d’Luft». Wenig später zurück in der Schweiz, stellte der Altstätter fest, dass die breite Öffentlichkeit von dem Unglück noch gar nichts wusste.[caption_left: 1986 entstand in Bonn dieses Foto mit Roger Biedermann (ganz rechts) sowie (von links) dem damaligen SP-Präsidenten Helmut Hubacher, Willy Brandt und Politkarikaturist Jürgen von Tomëi.]Mit Peter Bodenmann intensiv diskutiertBis 2008 war Roger Biedermann fast dreieinhalb Jahrzehnte in Schaffhausen daheim, wo er vier Jahre dem Stadtparlament angehörte. Ungefragt ergänzt er gleich, «als Listenfüller und als Hinterbänkler», doch die Umwelt war ihm immer wichtig. Als er im vorletzten Jahr Peter Bodenmann in Brig besuchte, zu dem er einen losen Kontakt unterhält, diskutierten sie intensiv. So gründlich, dass der frühere Präsident der SP Schweiz das Gespräch als Interview mit Biedermanns Einverständnis in der «Roten Anneliese» wiedergab, einem politisch linksgerichteten Blatt im Oberwallis.Sein Studium an der ETH in Zürich hat Roger Biedermann als diplomierter Agrotechnologe abgeschlossen, was heute dem Beruf des Lebensmittelingenieurs entspricht. Der Altstätter doktorierte mit einer Dissertation über ein ernährungsspezifisches Thema und genoss eine Nachdiplomausbildung auf dem Gebiet der Betriebswissenschaften.Seine berufliche Laufbahn begann er im schaffhauserischen Thayngen bei Knorr, wo er es zum Chef der Produktionsplanung und -steuerung brachte und ihm ein IBM-Computer mit Lochkarte zur Verfügung stand. «Damals haben wir pro Woche dreissig Tonnen Aromat gemacht», sagt Roger Biedermann. Vor allem seine Enkelkinder «händ da gern», drei Buben und zwei Mädchen im Alter von zwölf bis zweiundzwanzig Jahren. Eine Absicht des Altstätters, der zwei Kinder aus erster Ehe hat, besteht darin, für alle Enkelkinder einmal eine Altstadtführung in Altstätten zu organisieren, damit «auch sie die Heimat kennenlernen».Roger Biedermann ist seit 2008 in Neunkirch, einem nahe bei Schaffhausen gelegenen, mittelalterlichen Städtli mit 2400 Einwohnern zu Hause. Dieses hat er ebenso ins Herz geschlossen wie das botanische Kunstwerk der Gattin daheim auf der Terrasse.Erster Kantonschemiker beider Appenzell1972 begann Roger Biedermann als Kantonschemiker von Schaffhausen, drei Jahre danach erlangte er das Diplom als Lebensmittelchemiker. In den Achtzigerjahren baute er das Kantonale Laboratorium Schaffhausens zur Vollzugsfachstelle für die meisten Bestimmungen der Umweltschutz- und Gewässerschutzgesetzgebung aus.Mit der Einführung des neuen Lebensmittelgesetzes im Jahre 1996 wurde der Bereich Lebensmittelkontrolle auch auf die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und Glarus ausgedehnt und Roger Biedermann von den Regierungen dieser Kantone ebenfalls zum Kantonschemiker gewählt. Somit wurde der Altstätter der erste Kantonschemiker beider Appenzell.Aus dem «Kantonalen Laboratorium Schaffhausen» wurde ein «Interkantonales Laboratorium», das die Lebensmittelkontrolle der Kantone sicherstellt und zugleich für den Vollzug der Gewässer- und Umweltschutzgesetzgebung im Kanton Schaffhausen zuständig ist.Für Auftrag aus dem Bundesrat mitgearbeitetAbgesehen von Umweltthemen interessiert sich der 81-Jährige vor allem für Geschichte. Schon der Vater hatte eine Leidenschaft für frühere Epochen, weshalb er sich in der Altstätter Museumskommission betätigte. Sohn Roger war in seiner Jugendzeit öfter gefragt worden: «Wieso studiersch nöd Gschicht?» Er lächelt; im Maturazeugnis habe er in Geschichte den einzigen Sechser gehabt.Roger Biedermann ist seit Jahrzehnten Mitglied im Schweizer Alpen-Club. Geklettert sei er früher häufig, gern und «mittelgut». Das Halstuch, das ihn stets begleitet, stammt von diesem Hobby her. Es schützt den Nacken vor der Sonne. Wie der jährliche Marsch auf den Säntis zu einer liebgewonnenen Tradition, ist das Halstuch zu einer Art Markenzeichen geworden.  Auch in diesem Jahr will Roger Biedermann den Berg besteigen.Roger Biedermann hat in einer ganzen Reihe von Fachgremien mitgewirkt, unter anderem in der Eidg. Kommission für AC-Schutz (nach der Tschernobyl-Katastrophe), in einem Gremium, das den Bundesrat in Klimafragen beriet oder in der Eidg. Gewässerschutzkommission. Von den früheren Bundesratsmitgliedern Ruth Dreifuss und Jean-Pascal Delamuraz bekam diese Kommission den Auftrag zur Erarbeitung einer Strategiestudie «Stickstoffhaushalt Schweiz» erteilt. An dieser Studie habe sich die Kläranlagenpolitik orientiert, sagt Roger Biedermann, aber die Vorschläge mit Blick auf die Landwirtschaft seien nicht umgesetzt worden, «leider».An diesem Punkt kann Roger Biedermann sich einen kleinen Seitenhieb auf einen anderen Altstätter nicht verkneifen. Überhaupt sei in der Landwirtschaft in dieser Hinsicht «in den letzten zwanzig Jahren nichts gelaufen», sagt er – «auch wenn Bauernpräsident Markus Ritter etwas anderes behauptet».

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