08.04.2020

Einsam und in Ohnmacht

Karfreitag: Da steht einer, der ist gefesselt. Fesseln machen wehrlos, rauben die Bewegungsfreiheit. Fesseln machen einsam. Wer ihm – in diesem Fall Jesus – die Fesseln lösen möchte, wird umgehend daran gehindert.

Von Ingrid Grave
aktualisiert am 03.11.2022
Keine Solidarität? Doch. Während er den Kreuzesbalken zur Hinrichtungsstätte schleppt, begegnen ihm weinende Frauen (Lk 23, 27). Ihnen bleibt nichts als das Weinen. Der Verurteilte schleppt sich weiter. Am Kreuz schliesslich hängt die totale Ohnmacht, ihrer Kleider beraubt, dem Spott der Vorübergehenden ausgesetzt (Mt 27, 39; Mk 15, 29), einsam im Schmerz verblutend. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das war – nach dem Evangelisten Matthäus (27, 46) – der letzte Schrei Jesu.Steigen da, in der Befindlichkeit unserer derzeitigen Welt, nicht ähnliche Empfindungen auf? Gefühle des Ausgeliefertseins an das Lebensbedrohliche. Hilflosigkeit gegenüber dem, was über Europa, was über alle Kontinente unaufhaltsam hinwegkriecht. Die Verharmlosung der aufziehenden Bedrohung durch einzelne Mächtige – vergleichbar dem Spott der am Kreuz Vorübergehenden? Der einzelne Mensch auf engem Wohnraum, mit seiner Angst alleingelassen. Wie Gefesselte sind viele von uns, in oftmals bedrückender Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit. Kei-ne Solidarität? Doch.Es sind die Mitweinenden. Sie weinen mit den Weinenden. Es sind die Mitbetenden, die mit den Leidenden und Sterbenden nach Gott schreien. Es sind jene, die Bilder von aufgereihten Totensärgen in Ergriffenheit auf sich wirken lassen und sich das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit eingestehen. Es sind die in der Pflege Erschöpften.Unweit des Kreuzes standen Frauen. Sie harrten aus.Das Virus hat die Welt im Griff, die Ohnmacht hat das Sagen. Der Gekreuzigte liegt im Grab. Bleibt den Weinenden nur das Weinen?Die Frauen, die in der Nähe des Kreuzes gestanden waren, haben sich am Tag danach aus ihrer Erstarrung aufgerichtet. Sie bereiteten Salben vor, um am dritten Tag bereit zu sein für das Mögliche: den Toten zu salben. Was ihnen am Grab unerwartet entgegenkommt, ist neues Leben. Das Tote ist nicht mehr tot.Die Welt im Jetzt: Aus Ergriffenheit und Erstarrung wächst Solidarität. Aus Sattheit und ichbezogener Geschäftigkeit brechen neue Kräfte auf. Verzicht und Fürsorge schenken ein vergessenes Glücksgefühl.Tun wir das uns Mögliche! Dem neuen Leben zuliebe, das wir im Tiefsten alle ersehnen.Ingrid GraveDominikanerin in Zürich

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.