07.08.2020

Einsam auf dem dicht belegten See

Eine Bootstour von Rorschach ins Rheindelta eröffnet wunderbare Wasserweiten und Uferaussichten abseits von allem Betrieb.

Von Marcel Elsener
aktualisiert am 03.11.2022
Diese endlose Wasserfläche ist rauschhaft betörend. Ein leichter Sonnenstich und ein halber Liter Vorarlberger (Mohren!-)Bier mögen den Eindruck verstärken, doch wähnen wir unser Boot im vorabendlichen Gegenlicht als einziges auf dem See. Wie wir im angenehmen Fahrtwind mit gut 25 km/h dem Hafen entgegensausen, haben blinzelnde Fantasien freien Lauf. Die Zeppeline über Rorschach und Lindau erscheinen wie verharrend schwebende Raumschiffe, aus denen gleich Fühler zur Erde ausgefahren werden.Jetzt erleben wir diesen Moment, wie ihn alle Wassersportler kennen: Dass man einfach die Zeit vergessen und auf dem Wasser bleiben könnte, bis die Sonne untergeht und die Nacht über den See fällt. Leider muss unser Mietboot um 18 Uhr wieder am Platz beim Kornhaus sein, die drei Stunden sind im Nu verflogen.Zehntausende Boote und doch Einsamkeit Rückzugsort Bodensee? Dem Boom nach zum Vergessen: 30 000 Boote allein aufgrund der Anzahl Wasserliegeplätze (23 681) sowie Trockenplätze (5900) sollen es sein. Tendenz steigend, im Coronajahr melden Bootsfahrschulen und Schifffahrtsämter einen Ansturm wie nie. Angesichts der Mastendichte in den Häfen vermutet man akute Kollisionsgefahr. Bei der Anfahrt aus St. Gallen wirkt der See wie ein weisser Flickenteppich, auf deutscher Seite drängt sich scheinbar Boot an Boot. Die Warteschlange bei der Rorschacher Bootsvermietung lässt wenig Entspannung erwarten. Alle 30 roten Mietboote – 22 Pedalos und acht Motorboote – sind dauernd ausgebucht. Wir haben doppelt Glück: Unser Kapitän hat den Motorbootführerschein und ist dem Mietbetrieb seit Jugendjahren als Aushilfe verbunden. So erhalten wir zu Sonderkonditionen das acht Meter lange Bootstaxi für neun Personen mit 90 PS-Aussenbord-Motor. Kaum ausgelaufen, sind alle Boote aus dem Blick. Erstaunliche Erkenntnis: Der See, mit einer Fläche von 536 Quadratkilometern der drittgrösste Mitteleuropas, ist gross genug für alle. Von Dichtestress keine Spur. Wir sind allein auf dem weiten Wasser und stören selber nur ein paar Haubentaucher, die vor unserem Bug verschreckt abtauchen. Zwar spüren wir, eine Fünfergruppe aus Seebuben sowie einer Meerseglerin, als Motorboot-Neulinge gern mal die Höchstgeschwindigkeit von 21 Knoten respektive gut 39 km/h, was knapp unter dem erlaubten Tempo 40 ist. Doch sind wir lieber gemächlich unterwegs, und der See ist derart ruhig, dass die wenigen Wellen grösserer Schiffe fast ein Ereignis sind – ideale Bedingungen für Stehpaddler (die wir nett umfahren).Unser Ziel ist das Rheindelta, das grösste Naturschutzgebiet des Bodensees rund um seinen wichtigsten Lieferanten: Der Rhein liefert zwei Drittel des Zuflusses. Speziell interessiert uns seine Mündung, wo 2018 eine Sandinsel Aufsehen erregte: 300 Meter vor den Vorstreckungsdämmen, 100 Meter lang und 20 Meter breit, ein Beleg für die langfristige Verlandung der Bregenzer Bucht. Doch die Insel ist längst wieder verschwunden, auch unter Wasser kein Sandgebilde auszumachen. Spannend dafür, wie das Rheinwasser den See aufmischt: Fasziniert tuckern wir entlang der grünblauen Wasserscheide ostwärts. Spektakuläres passiert nicht, es jagen noch nicht mal Kormorane oder reiten Wakesurfer über die Wellen. Vielmehr herrscht wie erwünscht Langeweile, dann und wann aufgelockert von Bootsbegegnungen, die das Klischee bestätigen: Motörler grüssen zurück, Segler zucken nicht mit der Wimper, wir wissen es aus eigener Segelerfahrung. Vor Hard dann zwei prächtige Schiffe: Die historische «Hohentwiel» und die frisch restaurierte «Österreich» laufen parallel aus. Die stillen Buchten sind begehrt, am Alten und um den Neuen Rhein liegen Dutzende Boote vor Anker, jedes seine eigene Badeanstalt – ein Privileg erst recht in Coronazeiten. Freilich würden wir gern einigen Wasserarmen folgen, aber wir halten uns aus Vorschrift und Ehrensache an die Schifffahrtsordnung: Immer schön 300 Meter Abstand zum ökologisch sensiblen Ufer. Zudem wissen wir auch gar nicht, welche Einfahrten möglich wären und ob etwa ein neugieriger Bootsblick aufs FKK-Gelände in Fussach erlaubt ist. Wir widerstehen solchem Ansinnen und entscheiden uns für die offiziellen Häfen. Werftkran und Protzboote erinnern an Meerhafen In Hard staunen wir über Kran und Werft von Hartmann und den Anstrich eines Meerhafens, samt Böötliposern. Die Bootsnamen, ein Kapitel für sich: «Shi­shi, C’est la vie» (zu verkaufen), «Seehund II», «Medea» ... Weil im belebten Hafen kein unkomplizierter Gästeplatz in Sicht ist, entscheiden wir uns zum Bier im Salzmann-Hafen am Rohrspitz, also wieder um den 86er-Pfahl (Seezeichen) herum. Der Rest ist Geniessen, wie gesagt leider mit Mietablaufdatum. Für eine Ausfahrt ins Rheindelta muss es nicht das teure Bootstaxi sein: Auch mit den kleinen 6PS-Mietbooten schafft man grössere Ausflüge, fünf Stunden reicht ihr Tank. Sogar Seeüberquerungen liegen drin – in einer guten Stunde ist man in Langenargen oder Wasserburg. Und grösstenteils allein auf weiter See. Zweittext:Abseits Während sich in den Ostschweizer Badis Tüchlein an Tüchlein reiht und sich Einheimische und Touristen auf den Wanderwegen im Alpstein auf die Füsse treten, suchen wir das Sommerglück, das im Verborgenen liegt. In unserer Sommerserie besuchen wir aussergewöhnliche Orte, Geheimtipps und Sehenswürdigkeiten abseits der gängigen Touristenpfade. (red.) 

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