01.03.2021

Einmal wurde ich ernsthaft verletzt

Hallo. Bitte nennt mich Frank. Meinen richtigen Namen kann man sich leider schlecht merken.

Von Notiert von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Ich heisse TO-CU-LMS 04 und stehe seit dem 1. Dezember 2007 an Altstättens Stossstrasse. Erst kürzlich wurde ich in der Zeitung erwähnt, weil ein Südtiroler mit einem gemieteten Lamborghini an mir vorbeifuhr.Mit 111.Das ist Rekord!Seit ich hier stehe, ist weder ein Töff noch ein Auto so schnell an mir vorbeigefahren. Vor neun Jahren hatte mal jemand 108 auf dem Tacho, und Geschwindigkeiten, die bei hundert lagen, kamen öfter vor.Die Höchstgeschwindigkeit beträgt hier 50. Die Tafel kann ich allerdings nicht sehen, die steht deutlich weiter oben. Meine nette Nachbarin, Lydia Studach, bald 80 (Achtung: gemeint ist das Alter, keine Geschwindigkeit!), hat den Eindruck, talwärts werde tendenziell schneller gefahren als bergauf. Vielleicht haben die Leute, bis sie bei mir sind, die Tafel schon wieder vergessen.Ein anderer freundlicher Nachbar, Ernst Städler vom Büebig, biegt immer direkt neben mir zu seinem Haus ab, wenn er vom Städtli kommt. Ich habe ihn noch nie geblitzt, aber am Anfang genarrt. Bevor er sich an mich gewöhnt hatte, stand er abends ab und zu verwundert auf, um nach draussen zu se-hen. – Weil ich geblitzt und er automatisch ans Wetter gedacht hatte.Früher waren die Blitze noch weiss, aber die Technik veränderte sich und mit ihr auch die Farbe der Blitze.Meine Nachbarin nimmt meine Tätigkeit höchstens tagsüber zur Kenntnis. Sie liess bereits vor meiner Zeit abends die Rollläden herunter.Ein paar Tausend Fahrer erwischt’s jedes JahrDie Arbeit als Lasermessanlage verrichte ich hundertprozentig seriös. Die Behörden müssen Freude an mir haben. Seit ich bei der Liegenschaft Nr. 22 an der Stossstrasse stehe, dürfte die Gesamtzahl der geblitzten Verkehrsteilnehmer bei 50000 liegen.Leider sind die Daten nicht mehr vollständig erhalten. Deshalb kann die Polizei nicht sagen, wie viele Ordnungsbussen, Übertretungen und Vergehen ich – je nach Sichtweise – in meinem ersten Jahr verschuldet oder eingebracht habe. Ich weiss jedoch über einige Jahre genau Bescheid.Nehmen wir 2012.470620 Fahrzeuge fuhren an mir vorbei.Meine Erfolgsbilanz lautet für jenes Jahr so: 4301 Ordnungsbussen, 307 Übertretungen, 70 Vergehen. Ziemlich genau 1 Prozent war zu schnell unterwegs. Die Quote sank auf knapp 0,6 Prozent im Jahr 2015 und auf 0,54 Prozent im letzten Jahr.Die absoluten Zahlen sind jedoch gestiegen. Die Zahl der 502695 Fahrzeuge, die vor fünf Jahren ermittelt wurde, ist im letzten Jahr weit übertroffen worden: 717269 Fahrzeuge rollten an mir vorbei.Manchmal habe ich gruppenweise BesuchIm Sommer kommt es vor, dass ab und an eine talwärts fahrende Gruppe von Töfffahrern den etwas unterhalb meines Standorts liegenden Stossplatz zum Wenden nutzt und mich besucht. Jawohl, besucht! Die wohl auswärtigen Gäste stehen kurz bei mir herum, rauchen zum Teil, machen Fotos – und tschüss. Gut möglich, dass sie sich mit mir auf Facebook zeigen.Früher kam es phasenweise vor, dass manche Autofahrer hupten, wenn sie mich passierten. Und es war, als würde ich gegrüsst, ich fühlte mich tatsächlich wie ein Frank und nicht wie TO-CU-LMS 04.Im Kanton St. Gallen bin ich einer der drei ältesten meiner Art. Genauso alt wie ich sind meine Kollegen im Meggenhus und in Rapperswil-Jona an der Rütlistrasse. Ich wüsste gern, wie viel Geld wir der Staatskasse bis heute beschert haben, aber die Summe ist nicht bekannt. Ganz sicher sind es viele (Millionen) Franken, schliesslich kommt mein Name nicht von ungefähr, auch wenn Frank englisch ausgesprochen wird.Manchmal wird übervorsichtig gefahrenWas mich betrifft, meint die Polizei, Angaben seien nicht möglich, es lägen keine korrekten Zahlen vor, was unter anderem an stornierten Bussen, der Beteiligung ausländischer Fahrzeuge und an den Verfahren liegt, die zur Staatsanwaltschaft gelangen.Wahrscheinlich erinnern sich selbst die Einheimischen kaum noch daran, dass ich vor lan-ger Zeit einen Vorgänger hatte. Der stand weiter unten, ein kurzes Stück von der Migros entfernt.An meinem Standort ist es so, dass Autofahrer meinetwegen ab und zu erschrecken, brüsk bremsen, vorbeirollen und wieder beschleunigen. Das mit dem brüsken Bremsen ist heutzutage dank ABS weniger unangenehm für die Anwohnerinnen und Anwohner um mich herum.Meine Nachbarin findet, gelegentlich werde auch übervorsichtig gefahren – wahrscheinlich aus Angst, von mir erwischt zu werden. Was meine Nachbarin aber mehr beschäftigt als die Autos oder Töffs, sind Nutzfahrzeuge und ihre gewachsenen Dimensionen. Spaziert Lydia Studach ins Städtli oder von dort zurück, wird sie von zunehmend breiteren Lastwagen regelrecht an den Rand gedrückt, was ich sehr gerne blitzen würde, aber weder kann noch soll. Ein Trottoir besteht ja leider nicht, das fängt erst weiter unten an.Wurde ich eigentlich je demoliert? Die Polizei hat nichts erfasst. Es sind keine Beschädigungen verzeichnet. Mein Nachbar im Büebig erinnert sich dennoch an mehrere kleinere Vorkommnisse, an Abziehbilder und Spray auf dem Glas und, in mindestens einem Fall, auch an Brandspuren an mir.Am Tag nach der Meldung bereits geflicktMeine Chefs in St. Gallen wurden schon zünftig veräppelt. Viele Jugendliche hatten früher Spass daran, die Nummer von den Töfflis zu montieren und dann möglichst überschnell an mir vorbeizufräsen, um mich Sisyphusarbeit verrichten zu lassen. Nicht nur Töfflibuebe, auch Velofahrer und Biker forderten mich so heraus.Meine Nachbarin erinnert sich noch gut an eine Nacht, in der ich entgegen der Auskunft durch die Polizei erheblich verletzt wurde. Es war ausgerechnet in einer Adventsnacht, und Lydia Studach informierte später Polizeibeamte, die gerade aus dem Amtshaus kamen. Ob sie wüssten, dass man mich beschädigt habe, fragte sie, worauf die Polizisten unverzüglich nachgesehen hätten.Zum Erstaunen meiner Nachbarin war ich bereits am nächsten Tag geflickt. Sie sagt, da habe sie schon fast gezweifelt, ob ich wirklich angegriffen worden war, so schnell sei ich behandelt worden. Mein Gedächtnis kann ihr zwar nicht weiterhelfen, doch ich möchte hier zum Ausdruck bringen, dass ich sie besonders mag. Ich wünschte mir alle Leute so selbstkritisch und gesegnet mit Vernunft. Dann bräuchte es mich nicht.

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