28.05.2019

Einfach mal abheben

Hinter dem Gedanken, einfach mal abzuheben, steht vielleicht eine tief in uns verborgene Sehnsucht nach irgendetwas, das mehr ist als das Gewöhnliche, als die Fassbarkeit des Tagtäglichen.

Von Ingrid Grave
aktualisiert am 03.11.2022
Anders gefragt: Was meinen wir, wenn wir von jemandem sagen: Jetzt hebt er ab? In unserer Antwort bleiben wir eher vage. Da gibt es irgendetwas, das nicht so ganz in Worte zu fassen ist und uns in einer gewissen Verlegenheit zurücklässt.Ganz anders – oder doch nicht? – erlebte sich die kleine Gruppe von Menschen, die sich in Palästina so um das Jahr 30 oder 35 nach Christus auf eine Anhöhe begab. Es wird der Ölberg gewesen sein.Diese Menschen hatten eine ganz gehörige psychische Erschütterung hinter sich. Ihr Freund, ihr Begleiter und Führer war umgebracht worden am Kreuz. Sie waren innerlich führungslos geworden, niedergeschlagen, hoffnungslos; entsetzlich verängstigt wegen drohender Repressalien.Der Schriftsteller (Apg 1,1-11), der ihre psychische Verfassung einzufangen und für die Nachwelt aufzuzeichnen versuchte, beschreibt es so: Sie hatten sich in Jerusalem versammelt, miteinander gegessen und sich offenbar intensiv im Gespräch mit ihrer Situation auseinandergesetzt. Und dabei erleben sie Jesus als einen, der lebendig unter ihnen weilt. Er korrigiert ihre Vorstellungen vom Reich Israel. So wie sie es sich erhoffen, wird es nicht werden. Ihre Erwartungen werden sich nicht erfüllen, aber sie werden daran nicht zerbrechen. Im Gegenteil: Es wird eine unglaubliche Kraft über sie kommen, eine heilige Kraft, Heiliger Geist. In dieser Kraft werden sie alle Ängste abstreifen können und bis an die Grenzen der Erde ausschwärmen, um den Menschen die einzigartige umwerfende Erfahrung kundzutun: Aus Tod wächst Leben!Mit diesen Perspektiven, die sie selbst wohl noch gar nicht in der ganzen Tragweite erfasst haben, begeben sich alle miteinander auf eine Anhöhe, einen Berg. Auf den Berg ihrer Herzen? Der Berg steht symbolisch für Gottesnähe. Ist die Jüngerschaft nach dem Tod Jesu Gott näher gekommen? Genau da aber entschwebt ihnen derjenige, in dem sie – wie in keinem anderen Menschen – Gott erkannt hatten. Jesus «hebt ab». Eine Wolke im Blau des Himmels entzieht ihn ihren Blicken. Sie bleiben zurück mit ihrer Sehnsucht nach ihm und der Suche nach den Spuren der Göttlichkeit im eigenen Herzen.So etwa stelle ich mir den Hintergrund der Erzählung von der Himmelfahrt Jesu vor. Sie ist kein einmaliges Spektakel. Sie rührt an unserer Sehnsucht.Ingrid GraveDominikanierin in Zürich

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