06.10.2021

«Einer muss der Mörder sein»

Der Kristallhöhlenmord beschäftigt die Menschen, als läge er erst ein paar Wochen zurück. Warum ist das so?

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererDer Saal im Landgasthof Hölzlisberg ist an diesem Dienstagabend pumpenvoll. Auch im angrenzenden Restaurant hören Gäste gebannt dem bekannten Profiler und Bestsellerautor Axel Petermann zu, in dessen neuem Buch der Kristallhöhlenmord einer von drei Fällen ist.«Mord sollte nie verjähren»Auch Thomas Benz ist da. Der in St. Gallen lebende Bestatter ist mit dem Fall vertraut wie niemand sonst. Siebenjährig war er, als im Juli 1982 in Oberriet die beiden Mädchen Karin Gattiker (15) und Brigitte Meier (17) verschwanden. Stets hat Benz auf die Aufklärung und Aufarbeitung gedrängt. Dem Journalisten stellt er sich vor als «dä, wo immer gschtürmt hät».Seit 2012 ist die Tat verjährt und der Fall offiziell abgeschlossen. Ein Raunen geht durchs Publikum, als Axel Petermann bemerkt: «Das Beweismaterial ist vernichtet worden.» Der aus Rheineck gekommene Ardelio Murer hat eine klare Meinung: «Mord sollte nie verjähren.» Tatsächlich besteht eine politische Komponente. So ist auch der Bernecker Nationalrat Mike Egger zugegen, der den Aspekt der Verjährung in die Schweizer Politik getragen hat. Der Ständerat wird sich im Winter mit der Angelegenheit befassen.Mord gehört zu Kobelwald wie ein Buch ins RegalArdelio Murer lebte zum Zeitpunkt der Tat als 25-Jähriger in St. Gallen und hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass es in Kobelwald eine Kristallhöhle gibt. Corinna Konzett und Michael Wachter, die vor zwei Jahren aus Vorarlberg nach Eichberg zügelten, erkundigten sich im Internet über die Gegend und stiessen rasch auf den Kristallhöhlenmord. Auch nach Jahr-zehnten habe sie der schlimme Fall bewegt.Die einheimische Bernadette Gächter (damals 28) findet es sehr schade, dass der schöne Ort seit 1982 unweigerlich mit dem Kristallhöhlenmord in Verbindung gebracht wird. Bernadette Gächter bemerkt: «Wo immer ich sage, ich käme aus Kobelwald, bemerkt ganz sicher irgendjemand, das sei doch der Ort, in dem die Mädchen ermordet wurden.» Die 67-Jährige hatte sich zum Tatzeitpunkt ferienhalber in Spanien aufgehalten, wo sie im «Blick» vom Verbrechen las. Zur Buchvorstellung ist sie mit Manuela Bollhalder gekommen. Eine gute Freundin Bollhalders war eine Cousine eines der beiden ermordeten Mädchen.Claudia Zanga aus Rebstein kennt den Cousin eines der Mordopfer. Und die in Oberriet aufgewachsene Nadja Deganello (sechsjährig zum Tatzeitpunkt) sagt, ihr Götti habe seinerzeit wie viele andere geholfen, das ganze Gebiet nach den vermissten Mädchen abzusuchen. Ein paar Jahre nach dem Mord habe, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, der Name eines Verdächtigten die Runde gemacht.Skurrile Szene: «Ich bin ja verdächtigt»Bei der Lesung im Eichberger Landgasthof Hölzlisberg hat Axel Petermann kaum den letzten Satz gesprochen, als es zu einer skurrilen Szene kommt. Ein 80-Jähriger fühlt sich zu Unrecht dem Kreis der Verdächtigen zugerechnet. Der Mann besteht darauf, seine Sicht darzulegen. «Ich bin ja auch verdächtigt», sagt er. Einiges im Buch belaste ihn. Der Mann hatte Buchautor Axel Petermann und einen «Sonntagsblick»-Reporter im Zuge von Recherchen auf dem Weg in Richtung des Leichenfundorts hochgeführt. Axel Petermann widerspricht dem Mann; alle Aussagen seien korrekt dargestellt, und er habe ihn nicht belastet. Verdächtige gebe es überdies viele; auf Wertungen und Schuldzuweisung habe er bewusst verzichtet. Ein mit den Verhältnissen vertrauter Kobelwalder meint am nächsten Tag verwundert, der 80-Jährige sei seines Wissens nie mit dem Mord in Verbindung gebracht worden.Welche Erwartung hatten die Zuhörerinnen und Zuhörer? Romy Mattle aus Oberriet (14-jährig zum Tatzeitpunkt) kennt Axel Petermann aus dem Fernsehen und wollte erfahren, wie er die Sache sieht. Auch die in Eichberg aufgewachsene Karin Lüchinger wüsste gern genauer, wie sich alles zutrug, und ihr Bruder Thomas Nüesch hat einen klaren Wunsch, obschon er weiss, dass der sich nicht erfüllen lässt: «Dä Mörder kenne.» Nüesch – acht Jahre alt, als sich der Mord ereignete – erinnert sich an eine Zeit, in der die Männer in der Gegend unter Generalverdacht gestanden hätten. Nach dem Motto: «Eine mues es jo gsi si.» Mutter Christa Nüesch wirkt heute noch schockiert von der extremen Tat.Ohne Aufklärung «git’s nia Rueh»Die Auffassung, der Fall hätte nicht abgeschlossen werden dürfen, verbindet einen grossen Teil der Menschen, wenn nicht alle, die in den Landgasthof gekommen sind. Wie eine verschworene Gemeinschaft schenken sie Axel Petermann zwei Stunden lang ihre volle Aufmerksamkeit. Im zweiten Teil der Lesung wird es gruselig, ist vom Fundort der Leichen die Rede, vom mutmasslichen Vorgehen des Täters. Nur ein Ortskundiger komme als Täter in Frage, bestätigt der Profiler, was ohnehin alle schon wissen.Dass Petermann die Akteneinsicht verwehrt blieb, löst Kopfschütteln und gemurmelte Kommentare aus. Man scheint sich einig: Ohne Aufklärung «git’s nia Rueh». Die Forensik habe gewaltige Fortschritte gemacht, heisst es mehrfach. Vielleicht würde der Mörder ja doch noch ermittelt, wäre das Verfahren nicht für immer eingestellt.Corinna Konzett meint nach der Lesung, dass viele Anwesende einen persönlichen Bezug zu der furchtbaren Tat haben müssen, sei an Mimik und Gestik ablesbar und durch «die Energie im Raum» gut spürbar gewesen. Unwidersprochen bleibt das Schlusswort Axel Petermanns. Bei den Recherchen habe er erfahren, dass die Zeit halt doch «nicht alle Wunden heilt». HinweisAxel Petermann: Im Auftrag der Toten. Cold Cases – ein Profiler ermittelt. Heyne Verlag. Fr. 19.90. Weitere Lesung am Fr, 8.10. im «Hölzlisberg», Eichberg, 19 Uhr (mit Anmeldung).

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