13.08.2022

Eine nostalgische Entschleunigungsfahrt

Die Fahrt mit der Zahnradbahn von Rheineck nach Walzenhausen ist eine Attraktion für Touristen und Bahnliebhaber.

Von Tobias Hug
aktualisiert am 02.11.2022
Tobias HugLiest man die Bahnhofsbeschilderung in Rheineck, fällt einem ein merkwürdiges Symbol auf: Zwischen den Signalisationen für Gleise und Busse befindet sich das Piktogramm eines angewinkelten Zuges. Zwischen dem alten Bahnhofsgebäude und Gleis eins steht das ehrwürdige «Walzehuuserbähnli», wie die signalrote Zahnradbahn im Volksmund genannt wird. An diesem Vormittag hat Lokführerin Uschi Dietsche Dienst auf der Strecke. Lächelnd tritt sie aus der Führerkabine der «Liseli» und begrüsst die wartenden Fahrgäste.Über das Hexenkirchlitobel und den GriffelbachDie Fahrt der RhW-Bahn beginnt morgens um 5.45 Uhr in Walzenhausen und endet nach der letzten Fahrt um 19.35 Uhr wieder am selben Ausgangspunkt. Sie geniesse die frühmorgendliche Ruhe während der ersten Fahrten, sagt Uschi Dietsche, die seit über drei Jahren als Lokführerin auf dieser Linie unterwegs ist. Ab der ehemaligen Talstation Ruderbach führt die insgesamt 1,96 Kilometer lange Strecke durch eine wilde Landschaft. Zwei massive Brücken führen über das Hexenkirchlitobel und den Griffelbach, zwei Tunnel geleiten die Bahn durch den Berg. Dazwischen wird man von üppigen Wäldern, Obstbäumen und dem Bodenseepanorama begleitet. Während der Fahrt werden rund 274 Höhenmeter bewältigt.Ursprünglich als Standseilbahn gebautDie Bergbahn Rheineck-Walzenhausen (RhW), wie sie offiziell genannt wird, verbindet seit über 125 Jahren das st. gallische Rheineck mit dem ausserrhodischen Walzenhausen und gehört seit 2006 zum Liniennetz der Appenzeller Bahnen. Streng genommen wurde die Strecke erst 1909 von Walzenhausen bis zum Bahnhof Rheineck erweitert. Zuvor begann, beziehungsweise endete die Fahrt beim Bahnhof Ruderbach, der bereits zur Gemeinde St. Margrethen gehört. An dieser Stelle beginnt ausserdem die Zahnradstrecke mit einem spürbaren Übergang. Die restlichen rund 640 Me-ter bis zum Bahnhof Rheineck verlaufen seit 1958 über eine Schiene. Ursprünglich wurde das Bahnprojekt als doppelgleisige Standseilbahn mit Wassergegengewichtsantrieb realisiert.Zu Zeiten des Wassergegengewichtsbetriebes füllte der Lokführer jeweils einen Behälter zwischen den Wagenachsen mit Wasser aus dem Walzenhauser Weiher. Durch das Gewicht konnte der untere Wagen mittels eines Drahtseils nach oben gezogen werden. Das Wasser aus dem Behälter wurde am Fusse der Strecke jeweils wieder in den Alten Rhein entleert. Erst 1958 entstand durch den Streckenumbau die heutige elektrische Adhäsions- und Zahnradbahn. Auch die aussergewöhnliche Streckenbreite von 1,2 Metern stammt noch aus der Zeit der Standseilbahn.Muskelkater wegensteiler StreckeFährt man talwärts, beginnt die erste Sitzplatzreihe unmittelbar hinter dem Schaltpult. Dies begeistert Kinder und Erwachsene gleichermassen, da die Sicht aus der Frontscheibe die Neigung der Strecke erst richtig deutlich macht. Steil ist das Gleis mit durchschnittlich 25 Prozent Gefälle in der Tat. Die hölzernen Sitzbänke sind sogar leicht angewinkelt gebaut, um die Neigung im Sitzen etwas auszugleichen. «Für den kurzen geraden Abschnitt zwischen Rheineck und Ruderbach fühlt es sich vielleicht komisch an. Aber wenn es steil wird, ist man froh», weiss Dietsche. Sie habe nach ihren ersten Arbeitstagen auf dieser Strecke immer Muskelkater in den Beinen gehabt, erinnert sie sich lachend. Steht man während der Fahrt angewinkelt in der Bahn, kämpft man mit dem Gleichgewicht und muss ausserdem das Geholper der Zahnradstange ausgleichen. Mit ruhiger Hand aus dem Waggon zu fotografieren oder etwas von Hand aufzuschreiben, ist schwierig. Auf der Website der Gemeinde Walzenhausen wird die Bahn scherzhaft TGV – train à grande vibration – genannt.Während der Fahrt wird eines klar: Diese Strecke ist nicht für Produktivität oder Multitasking gedacht. Hier setzt man sich in den Zug, geniesst während der Fahrt die herrliche Aussicht auf den Bodensee und lässt sich buchstäblich den Stress von der Seele schütteln. Der Handyempfang fällt auf weiten Teilen der Strecke aus. Stellenweise erhält man sogar Benachrichtigungen von deutschem oder österreichischem Netz, welches von den nahe gelegenen Nachbarländern herüber funkt. «Eine Passagierin fragte mich einmal nach der Fahrt, ob wir aufgrund dieser Meldung gerade durch Deutschland gefahren seien», erzählt Uschi Dietsche. Diese Umstände laden dazu ein, die rund achtminütige Fahrt ohne multimediale Ablenkung zu geniessen.Gute Stimmung und entspannte FahrgästeAuf die Fahrgäste angesprochen, meint Dietsche: «Wir haben wenige Pendler auf dieser Linie, sondern befördern vorwiegend Touristen und Eisenbahnliebhaber.» Auch bei Schulreisen oder Betriebsausflügen sei eine Fahrt mit der Bergbahn beliebt. «Grundsätzlich treffe ich während meinem Dienst sehr viele zufriedene und entspannte Leute an», sagt Uschi Dietsche. Dass sie als Lokführerin nicht wie in anderen Zügen von den Gästen abgeschirmt sei, während der Fahrt mal ein Witzli machen könne und die Leute beim Ein- und Aussteigen nochmals sehe, lockere die Atmosphäre zusätzlich auf. Grundsätzlich ist das Publikum sehr vielfältig. In der Bahn werden diverse Dialekte aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich gesprochen. Uschi Dietsche betont: «Wir haben sehr dankbare Fahrgäste.»Nostalgie und SicherheitAuch der Triebwagen an sich ist eine Attraktion. «Im Prinzip ist er eine Antiquität», sagt Dietsche. «Liseli» verfügt über keine Klimaanlage, ist noch mit 3.-Klasse-Holzsitzen ausgestattet und muss in vielen Punkten ohne Automatisierung bedient werden. Genau dieser Charme wird jedoch von vielen Gästen geschätzt. «Das Spezielle an der Bahn ist die Nostalgie und die Kundennähe», ist sich eine ältere Dame sicher, die zu den häufigsten Fahrgästen auf dieser Strecke gehört. Trotz der Nostalgie gibt es klar definierte Sicherheitsvorschriften auf dieser Strecke: Wie alle Lokführerinnen und Lokführer muss Dietsche während der Fahrt alle 90 Sekunden das sogenannte Totmannpedal am Boden der Steuerungsapparatur bedienen. Auch werden jeweils mittwochs und sonntags Bremsproben auf der Strecke durchgeführt – und die Bahn wird alle fünf bis sechs Wochen revidiert. Zudem verfügt der Zug über einen modernen Fahrtenschreiber, der regelmässig ausgelesen wird. «Das ist ein Beruf mit grosser Verantwortung», betont Uschi Dietsche. 2019 stand die Erhaltung der RhW-Bahn aufgrund fehlender Wirtschaftlichkeit auf der Kippe. Zwei Jahre später erfolgte zum 125-jährigen Streckenjubiläum die Zusicherung über das Fortbestehen der Linie. Der Verwaltungsrat der Appenzeller Bahnen hat diesen Frühling einen Entscheid zugunsten einer automatisch betriebenen Zahnradbahn gefällt. Der Zuschlag für dieses Projekt ging an Stadler Rail. Nach der Finanzierungsgenehmigung werden die Appenzeller Bahnen die Öffentlichkeit im Detail über die Umsetzung informieren.

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