16.05.2021

Eine Freundin für neun Monate

Priska Sidler ist weder Hebamme noch Gynäkologin. Trotzdem unterstützt sie werdende Mütter während der Geburt: Sie ist eine Doula.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Um Priska Sidlers Hals baumelt eine Schnur mit einer kleinen Gipsfigur in Form eines Frauenkörpers, die Hände um den angeschwollenen Bauch geschlungen. Der Anhänger ist ein Symbol für die knapp 30 Mütter, die sie in den vergangenen 15 Jahren während der Geburt begleitet hat. Seit dem Abschluss der Ausbildung arbeitet die 48-jährige ehemalige Kindergärtnerin und vierfache Mutter als Doula. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie «Dienerin der Frau». Etwas mehr als 100 solche Geburtshelferinnen gibt es gemäss Berufsverband in der Schweiz. In der Region ist Sidler die einzige, die sich dieser Aufgabe verschrieben hat und heute sogar selbst Doulas ausbildet.Priska Sidler, weshalb braucht eine werdende Mutter eine Doula, zumal sie doch bereits durch eine Hebamme betreut wird?Priska Sidler: Hebammen sind medizinisch ausgebildete Fachpersonen, die bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem bei Hausgeburten Kinder auf die Welt holten und heute vorwiegend im Spital tätig sind. Eine Doula hingegen ist Geburtsbegleiterin und eine emotionale, nichtmedizinische Stütze. Natürlich können Hebammen den Gebärenden auch beistehen – deshalb haben wohl die meisten diesen Beruf gewählt. Nur ist der Alltag im Spital ein anderer.Inwiefern?Es sind oft mehrere Geburten gleichzeitig zu bewältigen. Ausserdem kennt die Gebärende ihre Hebamme im Spital nicht. Zur Doula hat sie bereits Vertrauen aufgebaut. Das wirkt sich positiv auf die Entbindung aus: Fühlt sich die Frau sicher und geborgen, hat das Einfluss auf die Geburtsdauer, ausserdem sind Schmerzmittel oder andere Interventionen wie mit Zange, Saugglocke oder per Kaiserschnitt seltener nötig.Könnte die Mutter, die Schwester oder eine Freundin die Gebärende nicht genausogut unterstützen?Manchen Frauen sind Personen aus dem engsten Umfeld zu nahe, um sie mit in den Kreisssaal zu nehmen. Sie schätzen es, wenn sie die Begleitperson zwar kennen, aber trotzdem eine gewisse Distanz herrscht. Ausserdem weiss eine Doula mehr über den Geburtsprozess als eine Freundin, obschon ihre Ausbildung keine medizinische ist.Welche Rolle hat der Partner, wenn eine Doula die Frau in den Gebärsaal begleitet?Viele Männer bleiben trotzdem bei ihrer Partnerin, sind aber froh um die Unterstützung. Andere sind dankbar, dass sie nicht in den Gebärsaal müssen. Das ist allerdings ein heikles Thema, über das meist lieber geschwiegen wird.Weshalb sprechen werdende Väter ungern über ihre Bedenken?Es wird heute fast erwartet, dass der Partner bei der Geburt seines Kindes dabei ist. Die meisten freuen sich auch auf ihre Aufgabe. Manche Männer würden währenddessen aber lieber auf die älteren Kinder aufpassen – oder sie sind im schlimmsten Fall sogar voreingenommen, weil im Umfeld Horrorstories über Geburten mit viel Blutverlust kursieren. Auch die Angst, ihrer Partnerin nicht helfen zu können, spielt mit.Der Begriff «Doula» mutet fast esoterisch-spirituell an. Hat die Begleitung etwas damit zu tun?Nein, gar nicht. Geburtshelferinnen gibt es schon seit jeher in allen Kulturen. Gerade in ländlichen Gebieten wie im Rheintal oder im Appenzellerland, wo die Hebammen früher von Hof zu Hof unterwegs waren, um Kinder auf die Welt zu holen, haben andere Frauen die Gebärende unterstützt, bis die Hebamme eintraf. Eine Doula ist also nichts Neues – das Konzept wurde Anfang der 1970er-Jahre in den USA lediglich wiederbelebt, neu benannt und ist so nach Europa geschwappt.In welcher Phase der Schwangerschaft wenden sich Frauen an Sie?Meistens im dritten Trimester, aber es gibt auch solche, die mich kontaktieren, sobald sie den positiven Schwangerschaftstest in den Händen halten. Dazu gehören nicht nur Erstgebärende. Uns kontaktieren auch Frauen, die bereits negative Geburtserfahrungen gemacht haben.Wie verläuft eine klassische Geburtsbegleitung durch eine Doula? Nach dem Kennenlernen folgen mindestens zwei Vorgespräche über Wünsche und Ängste der Frau. Wichtig ist auch, den Partner einzubeziehen. Im Mittelpunkt steht natürlich die Geburt an sich – aber auch wenn das Kind da ist, steht man als Doula nicht gleich auf und geht, man bleibt eine gewisse Zeit im Spital oder im Geburtshaus. In den Wochen darauf besucht man die Frau für ein bis zwei Nachgespräche und spricht über das Erlebte, um die Geburt zu verarbeiten, selbst wenn diese gut verlaufen ist. Manchmal unterstützen wir die Frauen auch im Wochenbett mit praktischer Hilfe.Wie reagieren Hebammen, wenn Sie im Kreisssaal dabei sind?Vor 15 Jahren kannte das natürlich noch niemand und die Skepsis war gross, gerade hier auf dem Land. In der Zwischenzeit hat sich das geändert. Wenn es zu Problemen kommt, dann nur, weil Hebammen denken, Doulas wollten sich in ihre Arbeit einmischen. Das möchten wir aber auf keinen Fall. Wir sehen uns als Hilfsperson, die der Frau gut zuredet oder sie massiert. Das muss ich übrigens auch interessierten Frauen immer wieder erklären.Demnach haben potenzielle Auftraggeberinnen eine falsche Vorstellung von Ihrer Funktion?Ab und zu, ja. Leider stelle ich fest, dass immer mehr Frauen allein mit einer Doula gebären möchten, weil sie keine Hebamme mehr finden, die Hausgeburten anbietet. Das ist natürlich ein Problem, aber solche Anfragen lehne ich strikt ab. Wir begleiten keine Geburt ohne Hebamme.Obschon Sie Geburten nicht allein begleiten, ist eine Doula genau wie eine Hausgeburtshebamme ständig auf Abruf, oder?Zumindest phasenweise. Die Pikettzeit beginnt in der Regel zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Ein spontaner Trip ins Tessin oder ein Glas Wein zu einem guten Essen sind dann nicht mehr erlaubt. Es gibt Doulas, die betreuen mehrere Frauen gleichzeitig und engagieren eine Back-up-Doula, die einspringen würde, wenn sich zwei Geburten überschneiden. Ich konzentriere mich allerdings wie die meisten auf eine Frau, auch weil man als Doula nicht gerade überrannt wird. Pro Jahr sind das ungefähr eine bis drei Geburten.Als Hauptberuf eignet sich Ihre Tätigkeit also noch nicht. Könnte das Bedürfnis nach Doulas künftig steigen?Tatsächlich leben nur wenige Doulas davon, es ist eher eine Berufung als ein Beruf, auch finanziell gesehen. Aber das Bedürfnis der Gebärenden nach einer Doula wäre schon da – nur wissen die wenigsten, dass es dieses Angebot gibt. Die Bekanntheit nimmt aber zu, auch weil Prominente wie etwa Meghan Markle mit Doula geboren haben. Das spiegelte sich sogar in meinem Kalender wieder: Mit acht Geburten war 2019 ein Rekordjahr.

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