12.10.2022

Einblick geben in eine andere Zeit

René Tanner ist Leiter des Handsticklokals in Balgach. Regelmässig führt er Interessierte durchs Dorf. Dabei weist er auf bauliche Zeitzeugen der Textilindustrie hin und erweckt die Kunst der Handstickerei wieder zum Leben.

Von Ira-Mareike Bohne, Stefanie Häfele
aktualisiert am 02.11.2022
Den Blick konzentriert auf die gezeichnete Vorlage gerichtet, bringt René Tanner das Rad der über 100-jährigen Stickmaschine in Bewegung. Er verschiebt den Rahmen so, dass die Nadeln den Stoff an der richtigen Stelle durchstechen. «Ich bewege dabei den Stoff. Die Nadel bleibt immer an der gleichen Position», sagt Tanner. Sein Blick schweift kurz zum Stoff und zu den Fäden – Kontrolle, dass alles noch stimmt – und dann zurück zur Vorlage.Er stickt ein Blumenmuster, für das er einen goldgelben Faden in die Maschine eingespannt hat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten beim Anstechen ertönt das regelmässige Klackern der Maschine. Während des Stickens wird nicht viel gesagt. Tanner arbeitet hoch konzentriert an seinem Sujet.[caption_left: Während des Stickens ist Konzentration und Koordination gefordert.  Bild: Stefanie Häfele]An der Fasnacht warf man «Puntscherli» statt KonfettiRené Tanner, 55 Jahre alt, verbrachte sein ganzes Leben in Balgach. Der gelernte Mechaniker arbeitete einige Jahre lang bei der Firma Jacob Rohner und lernte dort, Sockenstrickautomaten zu bedienen und zu reparieren. Danach stieg er in das Sockengeschäft seines Vaters ein und übernahm dieses 2003. So ist Tanner nicht nur hauptberuflich in der Textilindustrie tätig, sondern gibt als Leiter des Handsticklokals auch sein Wissen zum alten Handwerk an Interessierte weiter. Schon früh nahm er wahr, dass die Textilindustrie eine besondere Bedeutung für das Rheintaler Dorf hat: «In Balgach hat jede und jeder einen Bezug zur Handstickerei.» Als Kind zur Fasnachtszeit wurde das besonders deutlich: Die grossen Textilfabriken hatten sogenannte «Puntscherli». Das sind rund ausgestanzte Überreste der Lochkarten, die bei neueren Stickmaschinen verwendet werden. Anstatt Konfetti habe man diese herumgeworfen.Während des Spaziergangs durch Balgach weist Tanner immer wieder auf Zeitzeugen der Stickereiindustrie hin: Ein Gartenzaun, der aus Material einer alten Handstickmaschine hergestellt wurde, grosse Fenster in den Erdgeschossen vieler Häuser, damit möglichst viel Licht in die Arbeitsstuben hereindringen konnte, und Gebäude, die früher als Textilfabriken dienten. Voller Stolz zeigt Tanner auf das alte Rathaus mit dem Herz des Stickereidorfes – dem Handsticklokal. [caption_left: René Tanner beim Einsetzen der 52 Nadeln in die Handstickmaschine.  Bild: Stefanie Häfele]Die Schweizer Garde trägt Socken aus BalgachDie Entscheidung dafür, die Kultur der Handstickerei in Balgach weiter zu erhalten, fiel Tanner leicht. Sein Vorgänger Ernst Nüesch – der Spurensucher von Balgach – brachte ihm bei, die Maschine zu bedienen. In seinem Balger Dialekt erinnert er sich an die Lektionen: Die «Technik aloa» habe er an einem Morgen gelernt, aber «erst mit dem Arbeiten kommen die Nuancen. Nur weil ich ein Instrument spielen kann, heisst das noch nicht, dass ich Musik mache.» Das Handwerk sei keine körperlich schwere Arbeit und erfordere zudem viel Konzentration. Während Tanner über die Textilindustrie philosophiert, untermalt er mit der rechten Hand seine Gedanken. René Tanners Interesse an der Textilbranche kommt nicht von ungefähr: Sein Vater war als Sockenfabrikant tätig. Auch sein Urgrossvater war einer dieser Handsticker, von denen Tanner heute erzählt. Nebenbei betrieb er, wie viele andere im Dorf, eine Landwirtschaft zur Selbstversorgung. Heute kann Tanner von der Textilbranche allein leben. Die Socken, die er in kleiner Stückzahl herstellt, sind Unikate. Dabei vertraut er auf die neuste Technologie. Ausserdem werden Socken gestrickt und nicht gestickt – dieser Unterschied ist Tanner wichtig. Sogar der Vatikan vertraut auf die Expertise des letzten Socken­fabrikanten der Schweiz: Die Schweizer Garde trägt Socken aus Balgach.Die Tätigkeit als Wissens- und Kulturvermittler gefällt Tanner: «Ich gebe Einblick in eine andere Zeit und damit auch in das damalige Leben.» Die Spuren der Stickereizeit verschwinden in Balgach jedoch zusehends. Alte Fabrikgebäude werden zu Wohnräumen umfunktioniert und Stickereihäuser abgerissen. [caption_left: Die Wundermaschine, wie Tanner sie nennt, fädelt die Nadeln blitzschnell ein. Früher war das eine Arbeit, die Kinder mit ihren zarten Händen machen mussten.  Bild: Stefanie Häfele]Spuren der Stickereizeit verschwindenTanner verfolgt die Entwicklung gelassen: «Dem Neuen sollte man sich nicht verschliessen.» Die Handstickerei und das damit verbundene Wissen sollen aber trotzdem erhalten bleiben. So wird sich René Tanner weiterhin dem Handsticklokal widmen und, auch wenn die Zeit noch nicht drängt, sich um seine Nachfolge kümmern. Dies ist jedoch nicht so einfach, denn für Tanner ist klar: «Lernen kann man alles, aber die Freude daran, etwas weiterzugeben, die muss einem gegeben sein.» Der Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW[caption_left: Die vorbereiteten Fäden werden durchgebürstet, damit sie sich später besser in die Stickmaschine einsetzen lassen.  Bild: Stefanie Häfele]

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