27.09.2021

Einander auffangen in Krisen

Selbsthilfegruppen sind vermehrt auch bei 25- bis 40-Jährigen gefragt. Im Rheintal bleibt die Anzahl Gruppen stabil.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
«In den letzten Jahren ist die Nachfrage an psychischen Themen enorm gestiegen», sagt Pamela Städler, Stellenleiterin Selbsthilfe St. Gallen und Appenzell. «Während der Pandemie verzeichnen wir auch verstärkt Anfragen zum Thema Alkoholkonsum.» Zu den Betroffenen gehören Menschen, die kein grosses soziales Netz haben und deren Familienmitglieder sich weit weg befinden. Durch die Arbeit im Homeoffice und das eingeschränkte Frei­zeitangebot drohen auch Jüngere in die Isolation abzurutschen. «Einsamkeit stellt in jedem Alter eine schmerzhafte Belastung dar», sagt StädlerIn St. Gallen ist eine Gruppe für junge Menschen mit psychischen Belastungen im Aufbau. Warum nicht auch im Rheintal? Sind Hemmschwellen vorhanden? «Je nach Thema wird eine gewisse Anonymität sicherlich geschätzt», sagt Pamela Städler. «Dafür nehmen Betroffene oder Angehörige auch einen zumutbaren Weg auf sich.» Manch­-mal sei das Einzugsgebiet auf dem Land aber schlichtweg zu klein, um eine Gruppe bilden zu können. Dies sei ein Grund, weshalb sich Selbsthilfegruppen vermehrt in Städten ansammelten. Seit der Pandemie sind ausserdem einige Online-Gruppen entstanden.«Das Leiden hat sich verstärkt»Tina Garibaldi von der polyvalenten Beratungsstelle der Sozialen Dienste Mittelrheintal ergänzt folgende Wahrnehmung: «Nicht unbedingt die Zahl der Hilfesuchenden ist stark gestiegen. Aber das Leiden hat sich verstärkt.» Innerfamiliäre Probleme hätten sich verschärft. Dadurch, dass viel gemeinsame Zeit auf engem Raum verbracht wurde, seien bereits schwelende Probleme an die Oberfläche getreten. In der Folge kam es auch zu Trennungen oder gehäuften Trennungsabsichten, finanziellen Herausforderungen, Konflikten mit heranwachsenden Kindern sowie auch Suchtmittelkonsum. Die Suchtberatung sei dazu da, niederschwellige Hilfe zu leisten. «Wir weisen auch stets auf Selbsthilfegruppen hin», sagt Tina Garibaldi. Sich dort zu melden, sei aber oftmals mit Scham behaftet.Das bestätigt Vitus Hug, Bereichsleiter Beratung beim Blauen Kreuz St. Gallen-Appenzell: «Besonders wenn Betroffene zugeben müssen, rückfällig geworden zu sein.» Er leitet in Diepoldsau eine Gesprächsgruppe für Menschen mit Alkoholpro­blemen und deren Angehörigen. Er erzählt von einer Person, die mehr als zehn Jahre lang trocken war. Dann kam der erste Lockdown und es folgte der Griff zurück zur Flasche. Auslöser waren unter anderem Unsicherheit und eine veränderte Arbeitssi­tuation. «Es wurde vermehrt zu Hause getrunken, weil die Restaurants zeitweise geschlossen waren.» Im Gespräch frage man: «Willst du wieder aufhören oder gemässigt weitertrinken?» «Brauchst du Beratung oder medizinische Hilfe?» «Ist ein Entzug angebracht?» Man begegne diesen Menschen wertschätzend und motivierend in der Gruppe.Nicht verwechseln mit einer TherapieDie Pandemie habe aber nicht zu mehr Teilnehmenden in der Gruppe geführt, sagt Vitus Hug. «Wir erleben Wellenbewegungen. Derzeit haben wir eine Talsohle erreicht.» Während längerer Zeit sind die persönlichen Gespräche ausgefallen. Massnahmen wie Distanz halten und Mundschutz tragen machten es schwer, sich in der Gruppe auszutauschen.«Kürzlich trafen sich fünf Personen, seit längerem ein Höchststand», sagt Vitus Hug. Es war den Teilnehmenden ein Bedürfnis, nicht nur über Alkohol zu sprechen, sondern auch über allgemeine Befindlich­keiten. «Wer in eine Selbsthilfegruppe einsteigen möchte, muss ein Problem wahrnehmen und aktiv verändern wollen», sagt Pamela Städler. «Die Person muss Bereitschaft aufbringen, auch anderen zuzuhören.» Eine Selbsthilfegruppe sei kein Er­-satz für eine Therapie, aber eine sinnvolle Ergänzung. Wer eine Gruppe besuchen möchte, müsse sich zudem in einer stabilen, psychischen Verfassung befinden. «Eine Selbsthilfegruppe ist keine Krisenintervention.»Ist eine Gruppe erwünscht, die es vom Thema her und in der Region noch nicht gibt, unterstützt die Selbsthilfe St. Gallen  und Appenzell eine Neugründung.Hinweiswww.selbsthilfe-stgallen- appenzell.ch 

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