22.05.2020

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Im Appenzeller Vorderland läuft die Rehkitzrettung mittels Drohnen auf Hochtouren. Ein Augenschein.

Von Claudio Weder
aktualisiert am 03.11.2022
Staub fliegt auf, als Pilot Ueli Sager den Motor startet. Surrend hebt die Drohne vom Boden ab, steigt rund 80 Meter in die Lüfte. Bald ist sie nur noch als Lichtpunkt am dunklen Himmel erkennbar. Es ist vier Uhr morgens. Das Appenzeller Vorderland liegt noch im Tiefschlaf. Still ist es über den Wäldern und Hügeln.Unten am Boden bricht auf einmal Hektik aus. Ueli Sager hat mit seiner Drohne wohl ein Rehkitz geortet. Unverzüglich lotst er seine Männer per Funkgerät durch das nasse Gras. Nach rund 50 Metern gibt Patentjäger Mirko Calderara jedoch Entwarnung: «War wohl bloss eine Katze.» Der Auftrag ist hiermit erledigt, die abgesuchte Parzelle kann zum Mähen freigegeben werden. Sicher bringt Ueli Sager das Fluggerät wieder auf den Boden, verstaut es dann im Kofferraum seines Autos. Calderara hat seinen VW-Bus bereits gestartet. «Keine Zeit zu verlieren», tönt es hinter der Fensterscheibe hervor. Nächster Halt: Rehetobel Nord.Jährlich werden Tausende Rehkitze vermähtDas Prozedere scheint allen Beteiligten vertraut zu sein. «Wir sind ein eingespieltes Team», sagt Calderara. Für ihn ist es bereits der fünfte Einsatz in diesem Jahr. Mit dabei ist auch Jagdaufseher René Büchel und der 15-jährige Marcel Gämperle, der den Drohnenpiloten assistiert. Gemeinsam mit drei weiteren Drohnenteams, die an diesem Morgen im Vorderland unterwegs sind, sind die vier Männer auf einer Mission: Sie wollen Rehkitze vor dem Mähtod bewahren.Gemäss Jagdstatistik kommen in der Schweiz jährlich 1700 Rehkitze bei der Grasernte ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. In der Setzzeit (Gebärzeit), die ungefähr von Mitte Mai bis Mitte Juni dauert, suchen sich die Neugeborenen einen Liegeplatz im hohen Gras, meist in Waldnähe. «In den ersten Tagen nach ihrer Geburt sind die Rehkitze durch den sogenannten Drückinstinkt geschützt», erklärt Ueli Sager. Die Tiere ergreifen bei drohender Gefahr also noch nicht selbstständig die Flucht, sondern kauern sich stattdessen auf dem Boden zusammen und stellen sich tot. «Dadurch sind sie zwar vor Angreifern wie Füchsen geschützt. Der Mähmaschine sind sie jedoch schutzlos ausgeliefert.»Seit jeher versuchen Jäger und Landwirte, die gefährdeten Jungtiere durch sogenanntes Verblenden zu schützen. Dazu werden am Vorabend des Mähtags Scheuchen in Form von Fahnen oder blinkenden Lampen in die Wiese gestellt. «Diese Methode bringt allerdings nichts, da sich die Rehkitze, solange sie erst wenige Wochen alt sind, noch nicht davon abschrecken lassen», sagt Calderara. Aus diesem Grund sei die Rettung per Drohne vorzuziehen. Seit zwei Jahren läuft dazu in Ausserrhoden ein Pilotprojekt des Amts für Raum und Wald, der Patentjäger, des Bauernverbandes sowie des Landwirtschaftsamts. Die Drohnen werden von der Firma Remote Vision aus Herisau zur Verfügung gestellt. Für die Rehkitzsuche kommen hochspezialisierte Multikopter, die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind, zum Einsatz. Während des Fluges wird das Wärmebild auf einen Bildschirm übertragen. Dieser dient dem Piloten zur Navigation und Ortung der Rehkitze. Die Tiere sind dabei als weisse Punkte erkennbar. 2019 konnten im Vorderland auf diese Weise 72 Rehkitze gerettet werden. «Die Zusammenarbeit mit Profis ist uns ein grosses Anliegen», sagt Calderara. «Ein Laie hätte mit einer gewöhnlichen Drohne keine Chance.»Ausharren unter einem HarassBeim Birli in der Gemeinde Wald wird es langsam Tag. Landwirt Hans Hohl möchte dabei sein, wenn seine Parzelle mit der Drohne abgesucht wird. «Ich bin mir sicher, dass ein Rehkitz drin ist», sagt der Mann mit kariertem Hemd und Zigarette in der Hand. Die Wärmebildkamera registriert weisse Punkte. Nicht immer heisst das, dass sich ein Kitz in der Wiese verbirgt: «Manchmal sind es auch Füchse, erwachsene Rehe, Ameisenhaufen, Kuhfladen oder Schächte», sagt der Drohnenpilot.Der Landwirt lag mit seiner Vermutung richtig. Calderara und Büchel sind sofort an der entsprechenden Stelle. Das Rehkitz liegt gut getarnt im hohen Gras. Ohne Drohne wäre es wohl kaum entdeckt worden. Mit Schutzhandschuhen und Grasbüscheln nimmt Calderara das rund zehn Tage alte Tier, das sogleich zu fiepen und zappeln beginnt, aus der Wiese. Die Mutter hört den Hilferuf des Jungen und beginnt sich nervös am Waldrand im Kreis zu drehen. Dann wird das Kleine an eine geschützte Stelle am Waldrand getragen und mit einem Harass bedeckt. «Hier bleibt es solange, bis der Bauer das Gras gemäht hat», sagt René Büchel. An diesem Tag heisst das: rund drei bis vier Stunden.Die Sonne macht das Drohnenteam blindDie Rehkitzrettung ist ein Wettlauf gegen die Zeit. «Es muss schnell gehen, acht bis zehn Bauern haben angekündigt, dass sie heute ihre Wiesen mähen wollen. Je mehr Hektaren wir in dieser Zeit absuchen können, desto besser», sagt Calderara. Ein Problem sei nicht nur die geringe Akkulaufzeit der Drohne, sondern auch die fortschreitende Tageszeit. «Damit die Wärmebildkamera die Rehkitze orten kann, muss die Temperaturdifferenz zwischen dem Boden und den Tieren genug gross sein», erklärt Pilot Ueli Sager. Ideal seien Morgentemperaturen um 10 Grad sowie ein bewölkter Himmel. Denn auch Sonneneinstrahlung gelte es zu vermeiden, weil dies zu Störungen des Wärmebildes führen könne. «Sobald die Sonne scheint, werden wir blind.» Früh aufstehen sei das A und O. Das Arbeiten unter Zeitdruck ist für den Piloten eine Herausforderung. «Es ist stets eine Gratwanderung zwischen effizienter und technisch einwandfreier Arbeit», sagt Ueli Sager. Auch Calderara ist gefordert. Als Projektmanager muss er dafür sorgen, dass alle angemeldeten Parzellen vor den ersten Sonnenstrahlen abgesucht werden können. Am Vortag stellt er jeweils die Fahrtroute zusammen. Selbst für einen Ortskundigen wie ihn sei dies eine Herausforderung.Für Calderara, sowie die übrigen zehn bis zwölf Patentjäger aus dem Vorderland, die zurzeit für die Rettung der Rehkitze im Einsatz stehen, sind die Tage lang. Die Einsätze der Jäger erfolgen freiwillig: «Es ist nicht schön, wenn man ein Rehkitz mit abgetrennten Beinen in der Wiese findet und es dann mit einem Schuss von seinem Leiden erlösen muss.»Das Projekt habe allerdings auch eine Schattenseite. Das Angebot ist für alle Bauern gratis, die Kosten übernimmt der Kanton. «Dennoch nehmen nicht alle Bauern den Kontakt zu uns auf, bevor sie ihre Wiesen mähen. Selbst jene nicht, deren Parzellen in Waldnähe liegen. Das ist befremdlich.»Nach vier Stunden ist die Suche beendet. Für Calderara fängt nun der Arbeitstag erst richtig an. Er arbeitet seit 15 Jahren als Wildhüter in St. Gallen. Ueli Sager hat noch einen weiteren geschäftlichen Drohnenflug vor sich. Und René Büchel dreht nochmals eine Runde im Vorderland, um die geretteten Rehkitze aus ihren Käfigen zu holen. Drei waren es an diesem Morgen. «Das ist wenig im Vergleich zum Vorjahr, wo es pro Tag 10 bis 15 waren», sagt Calderara. Was am Ende des Tages aber viel wichtiger sei: «Dass wir jedem Bauern, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt, versichern können, dass er seine Wiese mähen kann, ohne dass ein Rehkitz zu Schaden kommt.»

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