09.08.2021

«Ein Tropfen auf den heissen Stein»

Ostschweizer Pflegeausbildungseinrichtungen melden steigende Anmeldezahlen. Dennoch zeigen sich Experten zurückhaltend.

Von Rossella Blattmann
aktualisiert am 03.11.2022
Krank zur Arbeit. Die Kollegin hat sich mit Covid infiziert und fällt aus. Den ganzen Tag auf den Beinen, mit Maske, Patienten sterben, und überall lauert die Ansteckungsgefahr: Pflegefachkräfte in Spitälern und Heimen kamen während der Pandemie an ihre körperlichen und psychischen Grenzen.Trotzdem haben sich an den Pflegeausbildungsstätten für die im Herbst startenden Jahrgänge gegenüber dem Vorjahr mehr Studierende angemeldet – auch in der Ostschweiz lässt sich ein Aufwärtstrend feststellen. Eine Entwicklung, die erstaunt.Ein Drittel mehr StudierendeAn der Ostschweizer Fachhochschule (OST) sind die Anmeldungen für den Bachelor-Studiengang Pflege für das Studienjahr 2021/22, welches im September startet, sprunghaft um einen Drittel angestiegen, dies nach zwei Jahren eines leichten Rückgangs. Laut Birgit Vosseler, Leiterin des Departements Gesundheit, verzeichnet vor allem das berufsbegleitende Studium erhöhte Anmeldezahlen.Auch die höheren Fachschulen (HF) in der Ostschweiz melden steigende Anmeldezahlen. Am Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe in St. Gallen (BZGS) werden im Herbst 13 Studierende mehr als im Jahr zuvor die Ausbildung Diplomierte Pflegefachfrau/Pflegefachmann beginnen. Im Frühling waren es gegenüber dem Vorjahr 16 weniger. Roland Zimmermann, Bereichsleiter HF Pflege am Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales (BfGS) in Weinfelden, sagt: «Wir verzeichnen einen konstanten Anstieg der Anmeldezahlen.» Aktuell seien etwa vier Studierende mehr als im vergangenen Jahr eingeschrieben. Es seien jedoch noch einige Bewerbungen offen, somit könnten es nochmals mehr werden.Coronabedingtes WachstumWarum verzeichnen sämtliche Ostschweizer Pflegeausbildungsstätten für die im Herbst startenden Jahrgänge einen Anstieg? Auch wegen des Coronavirus. Vosseler sagt: «Die Pandemie hat gezeigt, dass hochqualifizierte Pflegefachpersonen benötigt werden.» Zum einen, um die schwerkranken Menschen adäquat zu versorgen. Zum anderen, um den Druck aushalten zu können, neben den täglichen Pflegeaufgaben auch mit Patientenangehörigen sowie in interdisziplinären Teams zu arbeiten, so Vosseler. Edith Wohlfender, Geschäftsleiterin der Ostschweizer Sektion des Berufsverbands Pflege und Thurgauer Kantonsparlamentarierin (SP/Kreuzlingen), ergänzt: «Der Pflegeberuf bietet in wirtschaftlich unsicheren Zeiten – wie während der Coronapandemie – einen Arbeitsplatz und somit Sicherheit.» Zudem habe die Coronakrise die Bedeutung des Pflegeberufs in der Gesellschaft gestärkt, und bei den angehenden Studierenden den Wunsch geweckt, während der Krise einer sinnhaften Tätigkeit nachzugehen, fügt Wohlfender hinzu. Trotz des wachsenden Interesses hält sich der Optimismus bei den Gesundheitsexperten in Grenzen. Marianne Gschwend-Wick, Leiterin Weiterbildung und Berufsfachschullehrerin für den Fachbereich HF Pflege am BZGS St. Gallen, will nicht von einem Pflegeausbildungsboom sprechen. Im Kanton St. Gallen seien die Zahlen auf Stufe HF im Vergleich zu anderen Kantonen wie Bern oder Luzern nicht signifikant gestiegen.Warum? Gschwend bringt die gesundheitspolitische Situation in der Region ins Spiel. Die Spitäler Flawil, Rorschach und Heiden mussten die Lichter bereits löschen, die Schliessung des Spitals Wattwil ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Anzahl der Ausbildungsplätze hat sich in der Folge verringert. «Daher konnten auch weniger Studierende selektioniert werden.»Kurze BerufsverweildauerOb die Anmeldezahlen an den Ostschweizer Pflegeausbildungsstätten in Zukunft weiter steigen oder auf bisherigem Niveau bleiben, sei schwer einzuschätzen, sagt Edith Wohlfender. Doch was würde ein Pflegeausbildungsaufschwung für den Fachkräftemangel in der Ostschweiz bedeuten? Wird das Problem in vier, fünf Jahren behoben sein? «Nein», so die klare Meinung der Expertinnen. Wohlfender sagt etwa: «Ein Boom in der Pflegeausbildung ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein.» Einige angehende Pflegefachpersonen würden das Studium laut Wohlfender oftmals gar nicht erst abschliessen. Zudem verlasse ein grosser Teil der Pflegenden im Laufe ihrer Karriere den Beruf. «Ich erlebe in letzter Zeit immer wieder, dass auch langjährige Pflegefachkräfte aussteigen, weil sie einfach nicht mehr können», sagt Wohlfender. Laut Birgit Vosseler steigt etwa ein Drittel der Pflegefachkräfte vorzeitig, meistens vor dem 35. Lebensjahr, aus dem Beruf aus.Von den 65'000 Pflegefachpersonen, die in der Schweiz gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) bis 2030 fehlen werden, sind laut Vosseler 29'000 diplomierte Pflegefachkräfte auf Tertiärstufe. «Aktuell sind in der Schweiz deutlich mehr Stellen vakant, als jährlich Personen ausgebildet werden», ergänzt sie. Wie viel Pflegende mehr müssten denn ausgebildet werden, um diese Lücken zu füllen? «Je nach Berechnung müssten pro Kanton rund jährlich 250 Pflegefachpersonen zusätzlich ausgebildet werden», sagt Wohlfender. Für die Ostschweiz gebe es keine spezifischen Statistiken.Schlechte ArbeitsbedingungenWarum steigen zahlreiche Pflegefachpersonen aus dem Beruf aus oder schliessen die Ausbildung gar nicht erst ab? Laut Wohlfender gibt es zu wenig Betreuende pro Patient. Sie sagt: «Die Pflegenden rennen von einem Bett zum anderen und können die Patienten oft nicht standardgemäss betreuen. Das ist zermürbend.» Lange Arbeitszeiten aufgrund des Personalmangels, Schichtbetrieb, tiefe Löhne sowie körperliche und psychische Belastung sind weitere Faktoren, welche gemäss den Expertinnen zu Berufsaustritten in der Pflege führen können. Um den Fachkräftemangel zu beheben, gibt es laut Wohlfender nur einen Weg. Sie sagt: «Wir können noch so lange ausbilden: Die Arbeitsbedingungen für Ostschweizer Pflegende müssen sich dringend verbessern.» Die Pflegeinitiative setzte da an, fügt Wohlfender hinzu.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.