06.09.2020

Ein Todesurteil wie ein Stich ins Herz

Das Publikum der Freilichtbühne Rüthi weiss, wie die Geschichte endet – ist aber doch enttäuscht, als Anna Göldi zum Tod verurteilt wird.

Von Remo Zollinger
aktualisiert am 03.11.2022
In Glarus verurteilt ein Gericht die Sennwalder Magd Anna Göldi zum Tod durch das Schwert. Das Gericht sah ihre Schuld als erwiesen an: Sie sei eine Giftmörderin, eine Hexe, und habe das Kind einer oberständischen Familie verdorben. Dieses fand in einem Becher, den die Magd gefüllt hatte, Nägel und erkrankte schwer.Das ist die Geschichte, wie Anna Göldi den Tod fand. Die Zuschauer der Freilichtbühne Rüthi kannten diese, bevor sie kamen. Der Reiz – und die Herausforderung – für den künstlerischen Leiter Kuno Bont bestand darin, ihren Weg zu zeigen, die Frau zu begleiten, ihr Handeln in den Alltag des 18. Jahrhunderts einzubetten. In «Anna Göldi» zeichnet er ein erschreckendes Gemälde, das die Besucher staunen lässt.«Da hüpft sogar der grösste Ranzen»Besonders anschaulich ist dies in den Unterschieden zwischen gesellschaftlichen Ständen abzulesen. Anna Göldi stammt aus einer einfachen Familie im Rheintal. Sie beginnt bei der Familie eines Glarner Arzts, Ratsherren und Richters zu arbeiten. Dort erfährt sie, was es bedeutet, als Mensch wenig Bedeutung zu haben. Die Kinder der Familie rebellieren, der Arzt verführt sie, seine Frau drückt sich vornehm aus, meint es zwischen den Zeilen aber verächtlich.Doch schon in Sennwald war Anna Göldi Stigmatisierung widerfahren. Weil sie sich mit einer Gruppe Fahrenden angefreundet hat, wird sie im Dorf angefeindet. Auch, weil die Fahrenden wunderliche Dinge zeigen. «Walburgas Panoptikum» etwa, eine Art Vergnügungspark. «Da hüpft sogar der grösste Ranzen», ruft die Frau, um die Attraktion anzupreisen.Doch sie steht im gesellschaftlichen Abseits. Nicht nur, weil sie als Fahrende von der Gesellschaft verachtet wird. Zuvor hatte sie mit einem Handzeichen und einem Wort einen vom Berg herunterrollenden Felsbrocken gestoppt, der Sennwalds Häuser ohne ihr Zutun stark beschädigt hätte. Die Dorfbewohner sind aber nicht dankbar, sondern erstaunt, verwirrt. Halten Walburgas Tat für Zauberei.«Anna Göldi» schlägt Brücken zur heutigen ZeitWalburga und die Fahrenden werden verjagt, Anna Göldi verstossen. Von einer Gesellschaft, die sehr auf sich selber bedacht ist. Dies zeigt sich auch, als ein Glarner Industrieller Arbeitskräfte für seine Fabrik sucht. «Trau’ kom Glarner!», ruft ein Mann aus dem Dorf.Es ist ein einfacher Satz mit viel Bedeutung. Heute sind die Stände zwar nicht mehr so hart, Ausgrenzung aufgrund fadenscheiniger Merkmale gibt es aber immer noch. In «Anna Göldi» ist zu sehen, wie Mobbing funktioniert und welche Kraft die Gesellschaft hat, jemanden abzustempeln.Der Prozess ist weniger einseitig als erwartetBeim Prozess, dem sich Anna Göldi nach Intrigen stellen muss, entsteht beim Besucher eine Achterbahn der Gefühle. Die Magd – authentisch und ausdrucksstark gespielt von der Montlingerin Simona Specker – bekommt nämlich auch Unterstützung. Vom Pfarrer etwa, oder dem Vater ihres zweiten Kinds. Doch die Illusion «Freispruch» zerplatzt rasch. Anna Göldis früherer Arbeitgeber nutzt sein gesellschaftliches Ansehen aus und beeinflusst das paritätische Schiedsgericht. Dieses verurteilt die Magd – war aber, mehr als zwei Jahrhunderte später wurde dies bestätigt – gar nicht für den Fall zuständig.Anna Göldis Todesurteil ist in der Schweizer Geschichte ein schwarzes Kapitel. Es löste damals Empörung aus, und den Besuchern der Freilichtbühne Rüthi ging es nicht anders. Denn zuvor war das Bild einer integeren Frau gezeichnet worden; einer Frau, die lebenslustig und dienstfertig ist, wegen des Standes die Sonnenseiten des Lebens jedoch nicht kennenlernt.Eingebettet in die Bühne des Rüthner Freilichttheaters entsteht ein stimmiges Bild. Besonders zu gefallen wissen die Häuserkulisse und die mit Liebe zum Detail gestalteten Kostüme. Auch der Einsatz von Pferden und Eseln bereichert das Stück, das teils durchaus monumental daherkommt. Der lang anhaltende Applaus des Premierenpublikums zeigte aber: Die Aufführung ist gelungen.

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