Benjamin SchmidSchleichend und unbemerkt veränderte sich Max Sanger. Öfter und schneller fühlte er sich müde und unkonzentriert. Dabei war er gerade noch befördert worden und war verantwortlich für 48 Mitarbeiter in «seinem» Betrieb. Seine Arbeitskollegen und Chefs schoben sein verändertes Verhalten auf den Stress bei der Arbeit. Alle waren sich einig: Sanger brauchte Erholung vom Alltag. Sein Arzt diagnostizierte ein Burn-out und verschrieb ihm Ruhe. Er bekam Ferien, um die strapazierten Nerven zu entlasten und zu alter Stärke zurückzufinden. Das war in seinem 60. Lebensjahr.Gleichzeitig bemerkte seine Lebenspartnerin, die zu diesem Zeitpunkt noch in ihrer eigenen Wohnung lebte, dass sich Sanger teilweise seltsam verhielt. «Da stimmte etwas nicht», sagt Linda Karrer. Beim Rasenmähen vergass er Abschnitte und beim Pflegen der Sträucher fand er die passenden Gartenwerkzeuge nicht mehr auf Anhieb. Auffälliger noch waren seine Probleme beim Sprechen. Sie bemerkte des Öftern, wie er mitten im Satz ein Wort vergass oder Mühe bekundete, einer Konversation zu folgen.Wo bin ich zu Hause?Die Auszeit brachte nicht den gewünschten Erfolg – ganz im Gegenteil. Nach der Kur verschärften sich die Probleme bei der Arbeit. Sanger blieb stressanfällig und schien überfordert zu sein, so exakt zu arbeiten, wie es verlangt wurde. Doch nicht nur im Arbeitsalltag zeigten sich Defizite. «Wo bin ich zu Hause?», fragte sich Sanger im Herbst 2013. Das Pendeln zwischen seinem Haus und der Wohnung seiner Lebenspartnerin setzte ihm zu, verwirrte ihn regelrecht. Obwohl sie den Zusammenzug erst für das folgende Jahr geplant hatten und die Renovationsarbeiten noch nicht abgeschlossen waren, zog Linda Karrer noch im November 2013 bei ihrem Partner ein.Weil die Symptome nicht verschwanden, sondern eher an Stärke gewannen, schickte sie ihn zu weiteren Abklärungen ins Unispital nach Zürich. Am 11. Dezember 2013 sollte sich beider Leben für immer verändern. «Es traf mich wie ein Schlag ins Genick», erinnert sich Sanger. Linda Karrer ergänzt: «Wir waren erst sprachlos, dann hilflos und zuletzt hoffnungslos.»Demenz, aber nicht AlzheimerDie Ärzte des Unispitals diagnostizierten bei Max Sanger nach einem langwierigen und mühsamen Testverfahren Demenz. «Zum Glück kein Alzheimer», dachte sich Linda Karrer, ohne sich wirklich bewusst zu sein, worin die Unterschiede liegen. Grundsätzlich gilt, dass jede Alzheimererkrankung eine Form von Demenz ist, umgekehrt jedoch nicht. Um welche Demenzform es sich bei Max Sanger handelt, sei bis heute nicht abschliessend geklärt, sagt seine Partnerin. Während viele seiner Erinnerungen präsent seien, leiden seine Sprache und sein Denkvermögen zunehmend unter den Folgen der Erkrankung.Im ersten Schock der Diagnose wollten beide das Urteil nicht akzeptieren und holten eine Zweitmeinung in der Memory Clinic in Altstätten ein. Dort wurden alle Zweifel ausgeräumt: Die Krankheit führt langfristig zum Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit.Beide haderten mit der Diagnose. Nur ungern erinnern sie sich an diese aufwühlende Zeit. Unweigerlich stellte sich Sanger die Frage: «Wieso passiert das mir?» Während er mit Existenzängsten zu kämpfen hatte, wurde Linda Karrer von ihren Emotionen übermannt. «Das war eine dunkle Episode in unserer Beziehung», sagt sie und ergänzt mit Tränen in den Augen: «Ich war mir nicht sicher, ob ich das durchstehen würde oder meine Liebe verlassen muss.»Die ersten Monate nach der Diagnose waren schlimm. Sanger zog sich immer mehr zurück, sortierte seine Gedanken. Oft hätten sie miteinander gesprochen, hätten sich gegenseitig Halt gegeben, zusammen geweint und sich in die Arme genommen. Eher als seine Partnerin akzeptierte Sanger schliesslich die Krankheit. Rückblickend betrachtet ein Hauptgrund dafür, dass ihre Beziehung diese schwierige Zeit überstanden hatte.Beide sind überzeugt, dass dank der enormen Unterstützung und Hilfsbereitschaft der Familie der Alltag erträglicher wurde. Unverständnis, Trauer und Wut wichen der Erleichterung darüber, dass es nicht Alzheimer war. Beiden war es ein Anliegen, ihr Umfeld möglichst schnell aufzuklären. «Es war nicht einfach, die Krankheit meines Partners zu verkünden», erinnert sich Linda Karrer und fügt hinzu: «Aber es war nötig, um sein Verhalten und seine Schwierigkeiten zu erklären.» Seither gäben sich alle grosse Mühe, ihm und seiner Krankheit gerecht zu werden. Viele Freunde holen ihn für Spaziergänge ab, kommen auf ein Gespräch vorbei oder laden ihn auf ein Bier ein. Fünf Jahre nach der einschneidenden Diagnose sitzen die beiden am Küchentisch, halten sich bei den Händen und lächeln sich an.Den Humor trotz allem nicht verlorenSie scheinen glücklich zu sein. Die Krankheit hat ihre Spuren hinterlassen, ihnen aber den Humor nicht genommen. «Ohne Humor würde ich es nicht überstehen», sagt Linda Karrer und weiter: «Manchmal muss ich laut lachen.» Sei es, weil ihr Partner die Zigaretten, die vor ihm liegen, nicht findet oder einen Satz mit den falschen Worten beendet. Sie leben im Hier und Jetzt und versuchen, alles solange zu geniessen, wie es geht.Vor allem bei Dunkelheit und Nebel, aber auch an unbekannten Orten wird Max Sanger schnell unsicher, verliert die Orientierung und ist dann auf Hilfe angewiesen. «Es ist furchtbar», fängt Sanger den Satz an, sucht nach den richtigen Worten, ohne diese zu finden und bricht dann in Tränen aus. Seine Partnerin ergänzt: «Es ist zum Verzweifeln. Er möchte etwas sagen, aber es geht nicht.»Trotz der Tiefschläge erlebt das Paar auch schöne Momente: So in den Ferien auf Fuerteventura oder auf einem Roadtrip in den USA. Das Reisen verbindet die beiden seit Jahren. Sie sind glücklich darüber, dass sie trotz aller Einschränkungen, die die Krankheit mit sich bringt, dieser Leidenschaft frönen dürfen.Vor allem Linda Karrer ist es anzumerken, dass ihr das Wissen um den Krankheitsverlauf und die zwangsläufige Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu schaffen macht. «Wir geniessen die Zeit, die wir zusammen haben, so gut es geht», sagt sie und Sanger ergänzt: «Wenn es so bleiben würde, wären wir glücklich.»Kein Tag gleicht dem anderenSeit Linda Karrer letztes Jahr in den Ruhestand trat, haben beide mehr Zeit füreinander. Und obschon die Krankheit wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt, geniessen sie den Moment. «Kein Tag gleicht dem anderen», sagt Linda Karrer. «Dafür ist unsere Liebe zur Konstante geworden. Wir müssen nichts mehr, sondern dürfen nur noch wollen», sagt sie.*Namen geändert.