10.01.2019

Ein Pensionierter klettert auf Bäume

Ruhestand ist ein Wort, das nicht so recht zu Ernst Frei passen will. Obwohl er sich frühpensionieren liess, nimmt der 64-Jährige immer noch wagemutig Aufträge als Holzfäller an – mit Steigeisen und lärmender Motorsäge.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Hildegard BickelBäume fällt er nur im Winter, wenn sie kein Laub tragen und «nicht im Saft sind». Anfang Woche musste Ernst Frei die Motorsäge starten und die Föhre beim Kindergarten Girlen in Widnau fällen. Durch die Schneelast brach ein Ast ab, der Baum wurde zum Sicherheitsrisiko. Die Feuerwehr wäre mit dem Kranwagen nicht nahe genug an den Baum herangekommen. «Dann bleibt nichts anderes übrig, als den Baum von Hand und Ast um Ast zu schneiden», sagt Ernst Frei.Solch eine Notwendigkeit bereitet ihm Freude. Holz ist sein Element. Das zeigt sich auch zu Hause, wo eine Holzheizung die Stube wärmt. Ernst Frei zeigt Fotos, die ihn beim Holzschlag abbilden. «Er ist ein Macher», sagt seine Frau Marléne. Beim mächtigsten Baum, den Ernst Frei fällte, hatte der Stamm einen Durchmesser von 1,8 Meter, eine stattliche Pappel. Es brauche Res­pekt bei dieser Arbeit, sagt er. «Du musst wissen, was du dort oben machst.» Er geht nie alleine ins Holz, immer zu zweit. Sonst könnte eine Gefahr zum Verhängnis werden.Den Baum genau einschätzenBevor Ernst Frei auf einen Baum klettert, schätzt er mit geübtem Auge ein, wie er vorgehen muss. «Auch schon kam es vor, dass ich zu einem Auftrag Nein sagen musste.» Wenn ihm die Ausrüstung dazu fehlt oder wenn dürre Äste zum Sicherheitsrisiko werden könnten. «Hat eine Birke zum Beispiel einen Pilz, muss man nicht mehr hinaufklettern, dann braucht es eine Hebe­bühne.» Er geht pflichtbewusst vor und trägt Schuhe mit Ket­tenschutz, Sicherheitshose und -jacke, Helm, Gehörschutz und Handschuhe. Trotzdem können Unfälle passieren.Eine Narbe am Handgelenk zeugt von einem Unfall, bei dem Ernst Frei fast eine Hand verloren hätte. Er geriet ins Stolpern und fiel auf die laufende Motorsäge. Sie trennte all seine Sehnen durch. «Ich sagte zum Arzt, er müsse nur nähen, dann wolle ich wieder gehen. Darauf entgegnete der Arzt, eine Woche müsste ich im Spital bleiben.» Er harrte aus, die Verletzung heilte. Ernst Frei liess sich durch den Vorfall nicht bremsen. «Ich weiss, wieso der Unfall passierte und lernte daraus.»Zum Holzfällen kam der gelernte Maurer zunächst über seine Arbeit beim Unterhaltsdienst für Nationalstrassen und später bei seiner Arbeit beim Rheinbauunternehmen, wo er 28 Jahre tätig war. Er besuchte Kurse, lernte zu klettern und beherrschte bald verschiedene Schnittarten. Es kam auch vor, dass Ernst Frei seine Arbeit erklären musste, beispielsweise als der Kahlschlag am Kanal beim Ulmensterben 2010 und 2011 negative Reaktionen auslöste. Es sei schade, aber nötig, wenn kranke Bäume ein Risiko darstellten.Hobbys pflegen in der Pension2017 ging Ernst Frei in Frühpension und nutzt seither seine Zeit für Hobbys in der Natur. Er fährt gern Motorrad, macht mit seiner Frau Campingferien im Engadin und fischt am Silvaplanersee. «Er will nicht mit dem Flugzeug in die Ferien», sagt Marléne Frei und lacht. Im Winter wird ihm dank des Holzens nicht langweilig. Im eigenen Garten musste eine Tanne dranglauben. Sie war zu hoch und warf zu viel Schatten. Doch Ernst Frei ist nicht nur gut im Baumfällen. «Wir werden bestimmt auch wieder einen neuen Baum pflanzen.»

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