15.05.2021

«Ein bürokratischer Albtraum»

Seit vier Jahren kämpfen Myriam und Thinh-Khin Tong um eine Baubewilligung in Wienacht. Dem Kanton werfen sie Willkür vor.

Von David Scarano
aktualisiert am 03.11.2022
David ScaranoIm Rücken der herrliche Blick über den Bodensee, vor ihnen eine saftig grüne Wiese: Hier, in Wienacht, in der Vorderländer Gemeinde Lutzenberg, liesse es sich gut leben. Dies dachten auch Myriam (36) und Thinh-Khin Tong (42). Aus ihrem Blick auf die Bauparzelle, auf der sie ihren Traum des Eigenheims verwirklichen möchten, lässt sich aber keine Freude mehr ablesen. Sie sagen: «Die Freude ist längst verflogen. Wenn wir hier stehen, kommt der ganze Frust und auch die Wut hoch.» Seit mittlerweile vier Jahren kämpft das derzeit im thurgauischen Sitterdorf lebende Ehepaar um die Baubewilligung. Myriam und Thinh-Khin Tong mussten sich mit Rekursen, Einsprachen und widersprüchlichen Entscheiden der Behörden auseinandersetzen. Auf jeden Lichtblick folgte häufig ein Rückschlag. Sie sprechen von einem «bürokratischen Albtraum». «Wir fühlen uns hilflos und ohnmächtig.»Seinen Anfang nahm der Spiessrutenlauf 2017. Als der Rheintaler und die Baselbieterin in Wienacht den ausgeschriebenen Bauplatz fanden, herrschten zunächst Freude und Zuversicht. «Für uns war klar: Das ist unsere Zukunft, hier wollen wir leben», erzählt Myriam Tong. Sie hatten auch genaue Vorstellungen, wie ihr Haus auszusehen hatte. Ein Architekturbüro vollendete die vom Ingenieur selbst angefertigte Skizze. Der letzte Schliff erfolgte nach einer Intervention des Heimatschutzes. Nachdem ein bewilligungsfähiges Projekt erarbeitet worden war, liess das Paar das Bauland mit der Hinterlegung der handelsüblichen Summe reservieren. Doch bald war klar, die Realisierung des Holzhauses dürfte wohl nicht so einfach sein. Thinh-Khin Tong erzählt: «Naiv, wie wir waren, haben wir uns bei den künftigen Nachbarn vorgestellt. Doch einer sagte uns gleich ins Gesicht, wir sollten uns keine Hoffnung machen. Er werde alles unternehmen, um das Projekt zu verhindern. Notfalls gehe er bis vor Bundesgericht.» Den Worten folgten Taten, Streitpunkt ist bis heute die Erschliessung der Bauparzelle.Parzelle war einmal genügend erschlossen und einmal nichtMyriam und Thinh-Khin Tong haben einen dicken Ordner dabei, der die komplexe und komplizierte baujuristische Auseinandersetzung dokumentiert, die bislang aber nie über die erste Rekursinstanz hinauskam. Sie ärgern sich darüber, dass die Entscheide des Baudepartements nicht immer nur lange auf sich warten liessen, zweimal je acht Monate und einmal elf. Sie sagen: «Die Entscheide sind auch widersprüchlich und völlig willkürlich.»Um dies zu beweisen, nehmen sie den Quartierplan hervor. Ihr Bauland liegt an einer privaten Strasse, links und rechts stehen zwei Liegenschaften. «Unsere Parzelle galt beim ersten Entscheid des Baudepartements als erschlossen und beim zweiten dann als nicht mehr», sagt Thinh-Khin Tong. Als sich einer der Nachbarn das erste Mal querlegte, weil sein Privatgrund betroffen war, stellte die Gemeinde ein Ermächtigungsgesuch gemäss Artikel 66 des kantonalen Baugesetzes. Dieser besagt, dass sogenannte Hinterliegende und Nachbarn ermächtigt werden können, eine bestehende private Erschliessungsanlage zu benutzen. Das Baudepartement lehnt dieses Gesuch aber ab, weil es diesen Zwangsanschluss nicht brauche. Wie es wörtlich in der Begründung heisst, sei die Parzelle sowohl «nördlich als auch südlich in verkehrstechnischer Hinsicht bereits hinreichend erschlossen». Der Fall schien damit erledigt, die Erschliessung der Parzelle geklärt. Ausgehend vom Entscheid des Kantons erteilte die Gemeinde die Baubewilligung.Die Freude währte beim Ehepaar Tong aber nicht allzu lange. Eine erneute Einsprache der Nachbarn ging ein, und auch diesmal hatten die Bauwilligen das Nachsehen. «War die Parzelle zuerst genügend erschlossen, galt dies auf einmal nicht mehr», sagen sie. In der Begründung des Kantons steht, die Baubewilligungskommission Lutzenberg habe den «Sachverhalt in Bezug auf die hinreichende Erschliessung ungenügend abgeklärt». Die Sache werde zur Neubeurteilung an die Kommission zurückgewiesen. Besonders bitter und unverständlich für Myriam und Thinh-Khin Tong: «Der 50 Meter weiter südlich liegende Nachbar nahm sein Bauprojekt ein halbes Jahr nach uns in Angriff, lebt aber bereits seit 2018 im neuen Zuhause. Und dies, obschon das Einfamilienhaus an der gleichen Erschliessungsstrasse liegt.» Der 42-Jährige sieht dadurch seine Grundrechte missachtet. «Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung wird verletzt.»Brief an parlamentarische AufsichtsbehördeIn ihrem Kampf haben sich die Tongs auch an die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsrats gewandt. Im Brief schreiben sie unter anderem von Missständen im Baudepartement. Die Rekursentscheide sind in Ausserrhoden seit Längerem ein Politikum. Mehrmals hat die parlamentarische Aufsichtsbehörde den Stau im Baude-partement kritisiert. Artikel 63 der Bauverordnung gibt für die Behandlung von Rekursen und Einsprachen eine Verfahrensfrist von sechs Monaten vor, häufig werde diese nicht eingehalten. Das Ehepaar bemängelt zudem, dass mit der «erstbesten Begründung» Projekte an die Vorinstanz zurückgewiesen würden, um möglichst die vorgeschriebene Frist einhalten zu können.Das kantonale Baudepartement nimmt zum derzeitigen Rekurs keine Stellung, da es sich um ein laufendes Verfahren handle. Es teilt aber mit, dass bislang drei rechtskräftige Rekursentscheide des Departements Bau und Volkswirtschaft vorliegen. Diese Entscheide habe die Bauherrschaft nicht weitergezogen; sie seien in Rechtskraft erwachsen. Bezüglich der langen Verfahrensdauer verweist es auf die Rechtsgrundlagen. Die Behörden seien angehalten, die Gesuche und Rechtsmittel möglichst im Rahmen der festgesetzten Frist zu erledigen. Gelinge dies nicht, so seien die Betroffenen vor Ablauf der Frist schriftlich darüber zu informieren, schreibt das Departement. Dies setze den Behörden einen Anreiz, die Fristen einzuhalten. Für die Baugesuchstellenden gebe die Ordnungsfrist eine gewisse Erwartungssicherheit für den Abschluss des Verfahrens. Darüber hinaus sei es aber nicht möglich, Fristverfehlungen von Behörden gesetzlich zu sanktionieren. Es schreibt zudem: «Insbesondere im Zusammenhang mit Rechtsmittelverfahren sind die Ordnungsfristen zu relativieren, da die Länge vor allem durch die Parteien fremdbestimmt ist und diese im Rahmen des Schriftenwechsels jederzeit über den Stand des Verfahrens informiert sind.» Zu angeblichen Ungleichbehandlungen mit den Nachbarn kann sich der Kanton nicht äussern. Diese Gesuche hatte das Departement mangels Rekurs nie zu beurteilen. Die Gemeinde Lutzenberg wollte keine Stellung nehmen, da es sich um ein laufendes Verfahren handle. 60000 Franken Kosten für Anwälte und ArchitektenDer Streit hat bei den Tongs Spuren hinterlassen. «Die Situation ist sehr belastend. Es kommt immer wieder zu Spannungen», sagt die 36-Jährige. Auch nehme man die Sache mittlerweile persönlich. «Wir fragen uns schon, wieso zukünftige Nachbarn so bösartig sein können», sagen sie. Aufgeben wollen sie aber nicht. Ein Rückzug kommt nicht mehr in Frage, zu viel Geld und Zeit haben sie schon investiert. Das Ehepaar spricht von Ausgaben von über 60000 Franken für Anwälte und die Projektierung, die Opportunitätskosten nicht eingerechnet. Wie lange das Verfahren noch dauern wird, ist unklar. Der Ball liegt derzeit wieder beim kantonalen Tiefbauamt, das erneut abklären muss, ob und wie die Bauparzelle durch die Flurgenossenschaftsstrasse erschlossen ist. Die Tongs sagen: «Wir werden weitermachen, bis wir diese Baubewilligung bekommen.»

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