Sie sei «nur» eine angeheiratete Benz, sagt Yvonne Benz, geborene Güntensperger, die mit ihrer Familie in Mörschwil wohnt. Sie ist es aber, die nach Namen und Geschichten früherer Generationen forscht, sowohl in ihren Verwandtschaftszweigen als auch in der Familie des Marbacher Geschlechts. Als die 41-Jährige letzten Winter Ablenkung in einem coronafreien Projekt suchte, nahm sie sich vor, einen Stammbaum für ihre drei Kinder zu erstellen. Dabei stiess sie auf den Brief eines Benz-Ahnen, dem Ururgrossvaters ihres Mannes Patrik, datiert im Mai 1865.Dass ein Schreiben aus den USA des Carl Beda Benz existiert, gescannt und gespeichert auf dem PC, wusste Yvonne Benz. Nun nahm sie sich auch die Zeit, die 16 Seiten in Ruhe durchzulesen. «Zum Glück gab es bereits einige Notizen dazu», sagt sie. «Die alte Handschrift erforderte etwas Übung zum Lesen.» Nach der Lektüre war sie beeindruckt. «Es ist ein Stück Weltgeschichte, erzählt aus der Sicht eines jungen Marbachers.» Besonders habe sie die Szene berührt, in der Carl Beda Benz einen jungen schwarzen Mann vor seinen weissen Angreifern versteckt hatte. «Und natürlich, dass er an der Beerdigung des US-Präsidenten Lincoln dabei war.»Auf ein Abenteuer eingelassenCarl Beda Benz, geboren 1842, hat als 22-Jähriger das Rheintal verlassen und wanderte aus nach Nordamerika. In der englischen Hafenstadt Liverpool ging er an Bord des Schiffes «London» und überquerte den Atlantik. Diese Reise ist dokumentiert mit dem Eintrag auf einem Passagierschein, den Yvonne Benz bei ihren Nachforschungen online gefunden hat: «Nr. 154: Carl Benz, Alter 22, Beruf Laborer (Taglöhner)». Am 8. August 1864 ist der junge Mann aus Marbach in New York angekommen.Carl Beda Benz, porträtiert im April 1925 im Alter von 83 Jahren von seinem Bruder Albert Benz.Wenige Monate später tauschte er das Leben als Taglöhner gegen den Dienst in der Armee. Der Sezessionskrieg oder Amerikanische Bürgerkrieg war seit 1861 im Gang, ausgelöst durch tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung zwischen Nord- und Südstaaten. Brennpunkt war die Sklavereifrage. Fast 200 000 Schwarze kämpften auf Seiten der Nordstaaten für die Rettung der Union und für Gleichberechtigung. Der 1864 wiedergewählte Präsident Abraham Lincoln wollte dem Konflikt und der Sklaverei ein Ende machen und liess im Dezember 300 000 Mann in den Kriegsdienst aufbieten.«Ich war damals in Milwaukee Wisconsin», schreibt Carl Benz im Brief, «One Year in Service of the United States of America» – Ein Jahr im Dienste der Vereinigten Staaten von Amerika. Weil es schwierig war, Arbeit zu finden, reiste er nach Chicago. Dort herrschten zwar keine besseren Aussichten auf einen Job, es waren aber viele Handwerker nötig für die Bedürfnisse des Heeres. Der Winter und die Arbeitslosigkeit führten zu zahlreichen Aushebungen, trotz abschreckender Szenen, die Carl Benz schildert.«Tausende von Soldaten, die Arme und Beine im Kampfe verloren oder sonst verwundet waren, stimmten die Begeisterung für eine Einlistung bedeutend herunter.» Nebst den offerierten Löhnen bezahlte die Regierung 15 Dollar Sold pro Monat. «Ein Preusse, den ich zufällig traf, machte mir sein Vorhaben bekannt, dass er sich einlisten lassen wolle, wenn er nur noch einen guten Kameraden hätte, der zum gleichen Korps wollte.»Dieser Kamerad wurde Carl Benz. Nach der erfolgreichen Musterung vor dem Militärarzt folgte der Abmarsch der Truppe. «Man zählte 100 Weisse und 30 Neger», schreibt Carl Benz. Und fügt Zeilen an, gespickt mit Humor und Gefühl: «Bekannte von unseren Gefährten nahmen mitunter rührenden Abschied, so auch eine Negerin mit einem Kinde konnte den Vater kaum fortziehen lassen. Schaute mich ebenfalls um, ob nicht ein Marbacher bei den Neugierigen sich befinde, es liess sich aber keiner blicken. Die Musik spielte die Nationalhymne und fort ging’s nach Kamp Douglas. The Union forever, hurry Boys hurry.»Eine Nacht in der HölleIm Camp musste Carl Benz wegen Platznot mit neun seiner Kameraden in einer Baracke übernachten, in welcher 30 Deserteure eingesperrt waren. «Es entstanden heftige Schlägereien. Am übelsten ging es zwei Negern. An diesen wurde alle erdenkliche Bosheit und Rassenhass ausgeübt. Unter Schlägen und Tritten mussten sie ihre heimatlichen afrikanischen Tänze aufführen und singen.» Als endlich jeder versuchte, so gut es ging zu schlafen, verbarg Benz einen Schwarzen hinter sich und liess seinen Kopf auf ihm ruhen. «Es war derjenige, welcher sich kaum vom Weibe trennen konnte.» Später habe er sich gegenüber Benz immer sehr freundlich gezeigt.Die weitere Reise führte Carl Benz mit seinem Trupp ins Camp Butler, südlich im State Illinois gelegen, nahe am Rebellenstaat Missouri. Die Tage im Hauptquartier verbrachte Benz mit Wachdienst und Waffenübungen. Die Mannschaftsmitglieder «vom 18-jährigen Jüngling bis zum 60 jährigen Mann mit Graubart» stammten aus verschiedenen Nationen. Die Verpflegung sei nicht schlecht gewesen, «morgens schwarzen Kaffee und Brot, mittags gesalzenes Fleisch oder Speck».«Das Wasser dagegen war schlecht, aus Zisternen musste es gewonnen werden und öfters fischte man tote Ratten, Eidechsen und anderes Ungeziefer heraus.» Die ungewohnte Kost löste bei Carl Benz einen Ausschlag im Gesicht aus, man glaubte, er bekomme die Blattern, die un-ter den Truppen schon viele Opfer gefordert hatte. Im Spital erholte er sich und leistete anschliessend Einsätze in der Küche.Als der Befehl erfolgte, die Besatzung in Columbia, South Carolina, zu verstärken, bot die Stadt «ein trauriges Bild, die meisten Bewohner geflohen». Das Ende des Krieges nahte und General Robert Edward Lee, Oberkommandierender der Südstaaten-Armee, entschied sich am 9. April 1865 zur Kapitulation. Damit war der Krieg offiziell beendet. Mehr als 600 000 Menschen hatten ihr Leben verloren, Zigtausende waren verstümmelt, der volkswirtschaftliche Schaden durch die Zerstörungen war enorm.Erschütternde Nachrichten trafen einDie Armeeangehörigen wurden sukzessive entlassen und «auch wir wurden in Columbia überflüssig und konnten den Rückweg antreten», schreibt Carl Benz. «Auf diesem erfuhren wir die erschütternde Nachricht von der Ermordung des Präsidenten Lincoln.» Er starb am 15. April 1865 durch die Kugeln eines fanatischen Südstaatlers. «Überall fand man die grösste Entrüstung über diese verruchte Mordtat. Im Camp Butler wieder angekommen, hing der Sternenbanner mit Flor auf Halbmast.»Der Präsident stammte gebürtig aus Springfield, wo er auch begraben werden sollte, exakt in der Stadt, in der Carl Benz stationiert war. «Sämtliches Militär vom Camp Butler wurde zu dieser Leichenfeier beordert. Unter diesen hatte auch ich die Ehre an dem Trauerakt teilzunehmen und die Gelegenheit, den hohen Toten genau zu besehen.» Ein pompöser Trauerzug mit Musik, Militär und einer unübersehbaren Masse Volk strömte durch die Strassen. Mittendrin der Marbacher, der mit Stolz in der vordersten Reihe seines Korps marschierte.«Es lebe die Union. Es lebe Lincoln», so endet der Brief, geschrieben am 29. Mai 1865.Reise nach Hause, Hochzeit und KindersegenNach seiner Rückkehr in das Rheintal heiratete Carl Benz und gründete mit seiner Frau Maria eine Familie. Das erste der fünf Kinder kam zur Welt, als Benz 29 Jahre alt war. Beruflich war er als Flaschnermeis-ter tätig, was der Bezeichnung eines Spenglers, der Blech bearbeitet, entsprach. Für den Kriegsdienst in den Vereinigten Staaten hat er bis an sein Lebensende eine kleine Pension erhalten.Carl Benz erreichte das hohe Alter von knapp 91 Jahren. Im Nachruf, erschienen in der Rheintaler Zeitung, wird er als kluger und beliebter Mann mit friedliebendem Charakter gewürdigt. Seine Erlebnisse aus den bewegten Zeiten, die er in Nordamerika verbrachte, habe er oft und gern erzählt.Yvonne Benz staunte über die vielen digitalisierten Daten und Dokumente, die sie online gefunden hat. Eine grosse Hilfe war das Staatsarchiv St. Gallen und die Webseite www.family search.org. Nun möchte sie mit den gespeicherten Informationen eine Familienchronik erstellen. Was ihr noch fehlt, ist das Original des Briefes aus den USA. Grund genug für sie, weiterzuforschen. Auch das Staatsarchiv St. Gallen meldete Interesse am Schriftstück.